Besonders in Flandern ist die politische Mitte kollabiert, stellt De Standaard fest. Vor 15 Jahren hat der Vlaams Belang mit 24 Prozent sein bestes Ergebnis eingefahren. Jetzt liegt er zwar "nur" bei 18 Prozent, aber mittlerweile ist die N-VA stärkste Kraft. Zusammen waren die beiden rechtsnationalistischen Parteien nie stärker. Neben der N-VA haben auch OpenVLD und CD&V Stimmen an den Belang verloren.
Links der Mitte sind nicht die Grünen, sondern die Kommunisten die wirklichen Gewinner. Auch dort sehen wir eine Radikalisierung zum Nachteil der Sozialisten. Eine flämische Regierung aus N-VA, OpenVLD und CD&V kann schnell auf die Beine gestellt werden. Auf frankophoner Seite können PS, Ecolo und MR dasselbe tun. Aber wie daraus eine föderale Regierung gebildet werden soll, wusste gestern noch niemand, bemerkt De Standaard.
De Morgen begibt sich auf die Suche nach den Ursachen für den enormen Erfolg der Rechtsextremen. Die meisten der Stimmen für den Vlaams Belang sind wütende Stimmen. Und diese Wut kann viele Ursachen haben. Die Handhabung von Migration und Asyl zum Beispiel. Die N-VA hat in diesem Bereich harte Politik gemacht. Aber ihre Kommunikation dazu war noch härter. So haben sie die radikale Rechte wieder wachgeküsst.
Die Schwäche der N-VA
Auch die Regierung Michel trägt Schuld. Sie war die meiste Zeit viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Das ist gut für die Talkshow-Programme im Fernsehen. Aber schlecht für die Menschen, die zuschauen und sich fragen, was dieses Spektakel eigentlich soll, während sie sich Sorgen über ihre Kaufkraft und unbezahlten Rechnungen machen. Das erklärt auch zum Teil die Stimmgewinne der PTB. Außerdem ist die Medienstrategie des Vlaams Belang nicht zu unterschätzen. Sie ist wahrscheinlich die erste Partei in der Geschichte Belgiens, die eine Wahl über das Internet gewonnen hat, analysiert De Morgen.
Nach jeder Wahl ist es dasselbe: Niemand hat wirklich verloren und alle haben ein bisschen oder viel gewonnen, ätzt La Dernière Heure. Aber natürlich sind wir alle nicht blöd. In der Wallonie und in Brüssel werden PS und Ecolo Koalitionen schmieden, die im Hintergrund seit Wochen vorbereitet worden sind – auch wenn der Erfolg der PTB dabei etwas irritiert. Die einzige frankophone Regierungspartei, die MR, kassiert einen Rückschlag, geht aber nicht völlig unter.
Wie so oft kommen die schockierenden Ergebnisse aus Flandern. Der Erfolg des Vlaams Belang, der hauptsächlich auf junge Wähler zurückzuführen ist, schwächt die N-VA. Deren Parteichef Bart De Wever schien eine Zusammenarbeit mit den Rechtsextremen, und damit einen Bruch der so genannten Cordon sanitaire, gestern Abend weniger auszuschließen denn je, beobachtet La Dernière Heure.
Politische Extreme nun auch in Belgien
Die Äußerungen von Bart De Wever beschäftigen auch Le Soir. Die Leitartiklerin bezeichnet sie als untragbar. Dieser Parteichef hat die Wahlen verloren und instrumentalisiert nun den Sieg anderer, um seinem Projekt mit dem Namen "Konföderalismus" Auftrieb zu verleihen. Aber nichts kann rechtfertigen, die extreme Rechte als Mittel zum Zweck zu benutzen. Außerdem lügt der N-VA-Chef, wenn er behauptet, Flandern habe hauptsächlich den flämischen Nationalismus gewählt. Die Wähler des Vlaams Belang haben vielmehr das System abgestraft. Die N-VA ist Teil dieses Systems und die Abneigung der Protestwähler richtet sich noch mehr gegen sie als gegen die anderen großen Parteien.
Belgien war beim Thema Extremismus auf europäischer Ebene eine großartige Ausnahme und hätte es auch bleiben können. Aber das Land hat mit dem Feuer gespielt. Wie soll der Wähler von einem System überzeugt werden, in dem die Parteien viel versprechen und dann ihre Zeit mit Streitereien verplempern? Wie soll außerdem verhindert werden, dass Menschen für Parteien stimmen, die zum Hass gegen andere anstacheln, wenn die N-VA mit ihrer Rhetorik gegenüber den Wallonen und Migranten in dieselbe Kerbe schlägt?, echauffiert sich Le Soir.
"Flandern bewegt sich stark nach rechts, die Wallonie nach links. Folglich driftet das Land weiter auseinander", schreibt das GrenzEcho. Auch in der EU droht ein Rechtsruck. Der wird die EU nicht aus dem Gleichgewicht bringen, es dürfte aber einiges schwieriger werden. Und auch in Ostbelgien hat eine Protestpartei den Wahlsieg an sich gezogen, auch wenn sie die Zahl ihrer Sitze nicht verdoppeln konnte. Die Entwicklung ist bedenklich: Immer mehr Parteien repräsentieren mehr Wut als Bürger, befürchtet das GrenzEcho.
Zeit und Fantasie nötig
La Libre Belgique warnt vor allem vor überhasteten Schritten. In den Regionalparlamenten sind jetzt gegensätzliche Mehrheiten möglich – eine Mitte-Rechts-Regierung in Flandern und ein linkes Bündnis in der Wallonie. Aber derartige Koalitionen einzugehen, ohne an die Föderalregierung zu denken, würde eine schwere politische Krise auslösen. Lieber sollte es andersrum gemacht werden. Zuerst auf föderaler Ebene und dann in den Regionen.
Und dafür gibt es eine Lösung: Eine breite Allianz aus Sozialisten, Liberalen, Grünen und Christdemokraten sowohl aus dem Norden als auch aus dem Süden des Landes. Dem wird man entgegenstellen, dass die flämischen Nationalisten nicht dazugehören. Das stimmt. Aber jede andere Konstellation würde auf föderaler Ebene Parteien zusammenbringen, die es ausgeschlossen haben, miteinander zu regieren. Es wird Zeit und Fantasie brauchen, aber daran mangelt es den Belgiern nicht, philosophiert La Libre Belgique.
Peter Eßer