"Charles Michel sieht nicht schwarz", titelt das GrenzEcho. "Zakia Khattabi: Die MR-Kampagne ist eines Premierministers unwürdig", notiert L'Echo auf Seite eins. "Mehr als die Hälfte der Kandidaten sind Neulinge", so die Schlagzeile von Het Laatste Nieuws.
Die Zeitungen beschäftigen sich am Donnerstag ausgiebig mit dem bevorstehenden Wahlsonntag. Dabei spielen sowohl die nationalen, als auch die Europawahlen eine Rolle. Das gilt auch für die Leitartikel.
Zur gestrigen Debatte der frankophonen Parteivorsitzenden in der RTBF kommentiert L'Avenir: Der Schlagabtausch war ziemlich freundlich, ohne große Aufreger. Das ist verständlich. So kurz vor den Wahlen wollte keiner mehr einen Fehler machen, sich keine Blöße geben. Hitzige Wortgefechte waren selten. Hauptzielscheibe der Kritik war natürlich Charles Michel als scheidender Premierminister. Aber so richtig viel einstecken musste auch er nicht. Dabei spielte auch noch eine andere Überlegung eine Rolle: Denn die Parteivorsitzenden wussten nur zu gut, dass sie am Montag vielleicht schon mit dem einen oder anderen Gespräche suchen müssen, wenn es um die Regierungsbildung geht. Im Vorfeld dazu noch zu viel Gift zu versprühen, schien keinem sinnvoll, analysiert L'Avenir.
Die Malaise der Liberalen
De Tijd hält fest: Es war eigentlich wie immer. PS-Vorsitzender Elio Di Rupo schien so sicher im Sattel zu sitzen wie eh und je. Als ob es keine Skandale bei den Interkommunalen, keinen Aufstieg der PTB und keine Klimamärsche gegeben hätte. Die MR hat es in den vergangenen fünf Jahren nicht geschafft, die PS als größte Partei im frankophonen Landesteil abzulösen. Einen Premierminister-Bonus scheinen die Wähler der MR nicht geben zu wollen. Ganz im Gegenteil: Es sieht so aus, als ob die MR bei den Wahlen am Sonntag Stimmen verlieren wird. Die Bildung einer Mitte-Rechts-Regierung auf föderaler Ebene wird dadurch immer unwahrscheinlicher, schlussfolgert De Tijd.
Het Nieuwsblad glaubt zu wissen, dass es der flämischen MR-Schwesterpartei, der OpenVLD, nicht besser geht. Am Mittwoch, so führt die Zeitung aus, hatte Parteivorsitzende Gwendolyn Rutten die Ihren noch einmal um sich versammelt, um sich Mut zuzureden. Die OpenVLD sei in den vergangenen Jahren das Öl der Regierungskoalition gewesen, sagte sie. Was für ein Bild mit ungewollter Symbolik! Denn vom Öl wollen zurzeit alle weg. Überall sucht man nach Alternativen. Und so ist es auch mit der OpenVLD. Ihre Kampagne war blutleer, hatte kaum Inhalte zu bieten und hat vor allem die Menschen nicht erreicht, urteilt Het Nieuwsblad.
Die fehlenden Themen
Ein Thema, so findet derweil De Morgen, hat im Wahlkampf gefehlt: nämlich das Thema Abtreibung. Wie wichtig das gewesen wäre, zeigen die jüngsten abtreibungskritischen Äußerungen des niederländischen Identitären-Politikers Thierry Baudet. In Belgien herrscht bei diesem Thema scheinbar großer Konsens. Doch schaut man mal genauer hin, ist das nicht der Fall. Bei der CD&V gibt es immer noch viele, die sehr skeptisch gegenüber Abtreibungen sind. Auch die Position des Vlaams Belang wäre mal eine Diskussion wert. Die letzten Tage der Kampagne sollten gerade von den Spitzenfrauen der Parteien genutzt werden, um die Debatte um Abtreibung noch zu führen, wünscht sich De Morgen.
De Standaard seinerseits findet: Im Wahlkampf hat die Debatte um die Landwirtschaft leider gefehlt. Sie wäre aber notwendig gewesen, wenn man auf das schaut, was am Mittwoch im flämischen Parlament diskutiert wurde. Da ging es um die schädlichen Folgen des illegalen Kunstdüngers, der bei uns viel weiter verbreitet ist, als gedacht. Das Europäische Parlament weist den Weg, wie man wegkommen kann von dieser Gefahr. Es steht für eine neue europäische Agrarpolitik, fördert kleine Betriebe, Jungbauern, Biodiversität und kämpft gegen die Klimaerwärmung. Kurz: lokaler, kleiner, umweltfreundlicher und ökologisch realistischer. In unserer Kampagne war davon keine Rede. Wie schade, bedauert De Standaard.
La Dernière Heure weiß: Am Sonntag werden 700.000 Belgier das erste Mal wählen. Doch um die größte Sorge dieser jungen Menschen hat sich keiner wirklich gekümmert. Nämlich um die Frage: "Wie bekomme ich eine Arbeit mit einem Gehalt, von dem ich vernünftig leben kann?" All die anderen Themen wie Publifin, Firmenwagen, Kataster und so weiter interessieren die Jungwähler kaum. Beim Klima sind sie dabei. Aber um die jungen Menschen wirklich zu erreichen, müsste das Thema Arbeit den gleichen Stellenwert bekommen, bemängelt La Dernière Heure.
Am Montag ist alles Schall und Rauch
Lasst es doch schon Sonntag sein, fleht unterdessen Het Laatste Nieuws. Dieser Wahlkampf läuft sich gerade tot. Alles, was wir jetzt noch hören, hat sowieso keine Bedeutung mehr. Am Montag wird das alles sowieso wieder Schall und Rauch sein, wenn die Realität allen Parteien ihren eigenen Diskurs aufzwingen wird, prophezeit Het Laatste Nieuws.
Ein gespaltenes Belgien zeichnet sich ab. Eine neue große Krise auf föderaler Ebene ist zu befürchten, notiert schließlich noch La Libre Belgique. Einige Beobachter sind davon überzeugt, dass es deshalb schon im Januar Neuwahlen geben wird. Um das zu verhindern, brauchen wir Staatsmänner und -frauen von Format. Mal schauen, ob es die in Belgien gibt, zeigt sich La Libre Belgique gespannt.
Kay Wagner