"Bye, bye, Europe", titelt La Libre Belgique. "Europas Alptraum", heißt es bei De Standaard. Und Het Nieuwsblad fragt auf seiner Titelseite: "EU – was nun?". Die Entscheidung der Briten aus der Europäischen Union austreten zu wollen, ist das beherrschende Thema in den Zeitungen. In den Kommentaren spiegeln sich ganz unterschiedliche Meinungen dazu wieder.
Le Soir schreibt: David Cameron, der britische Premierminister, ist der Mann, auf den jetzt alle mit dem Finger zeigen. Völlig zu Recht. Doch darüber vergessen die meisten, dass er nur einer von vielen ist. Denn: Wie viele andere Politiker haben gehandelt wie er? Fast alle haben doch schlecht über Europa geredet. Europa war immer an allem Schuld. Entscheidungen, die man in Brüssel selbst getroffen hatte, wurden Zuhause als Diktat der EU dargestellt. Das hat man getan, um kurzfristig Wählerstimmen zu bekommen. Die Langzeitfolgen baden wir jetzt aus, meint Le Soir.
"Niederlage der Linken"
Für La Dernière Heure ist die Globalisierung der Hauptgrund für das Nein der Briten zur EU: Zahlreiche Arbeiter aus Nordengland haben für den Brexit gestimmt, weil Europa ihnen kein Schutz mehr geliefert hat. Sie hatten schlichtweg Angst um ihre Existenz. Die Befürworter des Brexit haben diese Angst geschürt. Dagegen waren die rationalen Argumente der EU-Befürworter machtlos. Denn Europa hat sich immer weiter von den Menschen entfernt. Und wenn wir nicht aufpassen, geht es so weiter. Mit der Konsequenz: Es wird weitere Austrittgesuche geben, glaubt La Dernière Heure.
De Morgen analysiert zunächst ähnlich: Die Linke hat versagt. Denn viele Brexit-Befürworter kommen aus der Bevölkerungsschicht, die typischerweise links wählt. Deshalb ist der Brexit auch eine Niederlage der Linken. Sie haben es nicht geschafft, ihre Werte in Europa durchzusetzen. Wenn die Menschen wieder Begeisterung für Europa spüren sollen, muss künftig vieles anders laufen. Der ehemalige Föderalminister Frank Vandenbroucke schlägt Folgendes vor: Man muss aus der EU einen Pool von Wohlfahrtsstaaten machen. Darin muss Platz für nationale Entfaltung sein, aber auch Solidarität bei gemeinschaftlichen Risiken bestehen. Eine durchaus interessante Idee, findet De Morgen.
Alter Motor muss wieder starten
Für neue Wege plädiert auch die Wirtschaftszeitung L'Écho. Die Entscheidung der Briten ist natürlich zu bedauern. Aber sie ist auch eine Aufforderung, etwas zu ändern oder, um mit William Shakespeare zu sprechen: "Fürchte nicht, was du nicht vermeiden kannst". Akzeptieren wir den Brexit als neue Gegebenheit. Antworten wir ihm so gut wir können. Und das bedeutet den Neustart des alten Motors. Soll heißen: Die sechs Gründerstaaten der ehemaligen Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft müssen alleine weiter voranschreiten. Mehr Union zwischen Deutschland, den Benelux-Staaten, Frankreich und Italien ist das Gebot der Stunde, findet L'Écho.
La Libre Belgique bleibt weniger konkret. Was jetzt?, fragt sich die Zeitung und meint allgemein: Man muss das Projekt Europa neu definieren. Das Projekt muss ehrgeizig sein, föderal aufgebaut und im Dienst der Bürger stehen. Und alle seine Teilnehmer müssen ein wirkliches Interesse daran haben, das Projekt erfolgreich zu gestalten, so La Libre Belgique.
Bürger in der Pflicht
Das GrenzEcho sieht den Bürger in der Pflicht, sich mehr an der europäischen Politik zu beteiligen. Doch dafür muss sich auch etwas in Brüssel ändern. Die Zeitung schreibt: Es ist an der Zeit, endlich dem Feudalismus der EU-Kommission Einhalt zu gebieten, und sich von einem Europa als Selbstbedienungsladen zu verabschieden. Das EU-Parlament braucht mehr Entscheidungsgewalt, damit die Bürger es als Legislative ernst nehmen und entsprechend bewusster ihre Wahlzettel ausfüllen. Die Regierungschefs der Mitgliedsstaaten müssen sich gerade auch in europapolitischen Fragen stark machen für Formen der Bürgerbeteiligung und der direkten Demokratie. Aber das gelingt nur, wenn die Bürger es wollen und einfordern, mahnt das GrenzEcho.
L'Avenir bedauert, dass das Referendum in Großbritannien eine gespaltene Gesellschaft zurücklässt: Das Wahlergebnis zeigt, dass junge Menschen anders abgestimmt haben als alte, der Süden anders als der Norden, Arme anders als Reiche, Nordirland und Schottland anders als England. Damit haben wir es Schwarz auf Weiß: Ein Referendum ist reiner Populismus. Es führt nicht dazu, Volksstimme zu Gehör zu bringen, sondern es sät Zwietracht und vergiftet eine Gesellschaft, findet L'Avenir.
Generationskonflikt
Etwas Anderes schlussfolgert De Standaard aus den Wahlergebnissen: 80 Prozent der Briten, die jünger als 25 Jahre sind, haben für den Verbleib in der EU gestimmt. Das hat jeden überrascht. Es gibt also noch die Menschen, die an Europa glauben. Mit ihnen muss jetzt darüber gestritten werden, wie Europa künftig aussehen soll. Wir müssen eine offene, streitbare und von allen getragene Diskussion ohne Tabus über das führen, was wir mit der EU wollen. So kann Europa wieder zum Erfolg werden, schreibt De Standaard.
Auch Het Laatste Nieuws beschäftigt sich mit dem "Clash der Generationen", wie die Zeitung es nennt: Die Briten, die 50 Jahre und älter sind, haben ihren Kindern und Enkelkindern keinen Gefallen getan. Sie haben das Land aus der EU gewählt, und die Wahlergebnisse zeigen, dass gerade die Kinder ihre Zukunft in der EU gesehen haben. Die Alten haben den Jungen diese Zukunft verdorben. Das ist genauso wie in Belgien, wo die Generation der 50+ steril auf ihre altbewährten Rechte pocht, und die jüngere Generation offenen Auges ins Elend laufen lässt. Peinlicher geht es nicht, findet Het Laatste Nieuws.
Kay Wagner - Bild: Philippe Huguen/AFP