Nein, Herr Asselborn, das ist zu einfach, vor allem aber sündigen sie durch Unterlassung. Kommen wir kurz auf die Fakten zurück: Juni 1985. Gar nicht so einfach, die Dienstfahrt von St. Vith nach Schengen, noch gab es keine Navis. Viel tat sich dort nicht. Kein großer Bahnhof, kein Gipfel, keine "grand' messe", wie Sie in Ihrem charmanten Luxemburgisch sagen würden und, um dabei zu bleiben, "pour cause."
In den frühen 1980ern, geprägt von mörderischen Schüssen auf den Parkplätzen belgischer Supermärkte, vom Bombenanschlag in Bologna und den Erinnerungen an die deutsche RAF, war der Ruf nach einem "gemeinsamen europäischen Rechtsraum" entstanden. Dieser Ruf hatte nicht nur Anhänger. Im Gegenteil, er wurde bekämpft, auch angesichts der offenen Fragen, die sich im Zusammenhang mit diesen Vorfällen, aber auch mit den im Aufbau befindlichen Datenbanken, stellten.
Da waren die europäischen Rechtspolitiker schon froh, eine Verstärkung der grenzüberschreitenden innereuropäischen polizeilichen Zusammenarbeit durchzusetzen. Und das war eine Idee, die sich wunderbar kombinieren ließ mit dem Wunsch vieler Europa-Aktivisten, auch im hiesigen Grenzraum, die ab und zu symbolisch Schlagbäume ansägten.
Ja, Herr Asselborn, Schengen ohne Schlagbäume ließ sich herrlich verkaufen, als nettes Nebenprodukt der polizeilichen Zusammenarbeit, und dies verfehlte ja auch seine Wirkung nicht, so sehr, dass inzwischen schon manche Jugendliche fast glauben, Reisefreiheit sei erst mit Schengen entstanden, oder mit dem Euro.
Es war Symbolpolitik, Herr Asselborn, und Symbole sind wichtig, sehr wichtig. Doch schön wäre es gewesen, dem kraftvollen Symbol inhaltliche Europapolitik folgen zu lassen, etwa gemeinsame soziale Standards, oder ein tragfähiges Fundament, vor dem Vabanque-Spiel mit dem Euro. Vor dem, nebenbei angemerkt, Reisen übrigens auch möglich war, mit Reiseschecks.
Ebenso wichtig: eine gemeinsame Steuerpolitik. War es nicht in dieser Woche, dass ihr früherer Koalitionspartner, Finanzminister und Regierungschef Juncker, sich in Straßburg mit dem Bonmot herausredete, ein Luxleak gebe es nicht, höchstens ein Europa-Leak. Hat er tatsächlich so gesagt. Über den Umgang mit der Flüchtlingskrise erst gar nicht zu reden.
Und wissen Sie, Herr Asselborn, dass ich Grenzen noch nie so einengend und nervend empfunden habe wie jetzt? Viel mehr als damals, als es galt, kurz auf Köpfchen oder auf Wemperhardt anzuhalten und (wenn überhaupt) den Ausweis zu zeigen. Noch in dieser Woche wollte ich, beileibe keine neue Erfahrung, eine Sendung in der ZDF-Mediathek anschauen: "leider nur in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Wir bitten um ihr Verständnis."
Zugegeben, Herr Asselborn, das ist nicht Ihre Schuld, aber die Krokodilstränen über Schengen überzeugen mich nicht. Das ist mir zu einfach, auch wenn mir auf youtube meine Lieblingsband verwehrt wird ("in Ihrem Land nicht zugänglich") oder der Zugang zu den Netflix-Filmen in Deutschland. Hat mit den IP-Adressen zu tun, weiß ich, aber macht mich nicht verständnisvoller für die neuen, diesmal undurchlässigen Grenzen.
Nein, Herr Asselborn, Schengen hat Grenzen nicht abgeschafft, wohl hat es Politiker und Bürger eingelullt, europäische Hausaufgaben nicht in Angriff zu nehmen. Ironie der Geschichte: Schengen gibt Viktor Orban, zusammen mit Dublin, ein Argument in die Hand, auf das die EU liebend gerne verzichten würde.
Frederik Schunck
Nun ja, Herr Schunck, es soll auch Grenzübergänge geben, an denen NOCH mehr los ist als auf Köpfchen oder Wemperhardt und wo die Warterei in der Zeit vor dem Schengener Abkommen alles andere als lustig war...
Zu Ihrer Argumentation zu den Grenzen bei Mediathekangeboten: Sie sprechen mir aus der Seele mit der Aussage, dass solche Einschränkungen lästig sind. Aber warum schaffen es denn die Rundfunkanstalten nicht selber, hier für "Freizügigkeit" zu sorgen? Muss es denn so sein, dass man als Sender die "Zaungäste" aussperrt? Was würde es kosten, wenn ein Paarhunderttausend Ostbelgier, Südtiroler und Auslandsdeutsche Zugriff auf diese Angebote hätten? Mit anderen Worten: Immer gleich nach dem europäischen Gesetzgeber zu rufen, ist auch keine Patentlösung!