Ab wann ist man denn nun reif für die Politik? Für ein reflektiertes Urteil? Für eine verantwortungsvolle Teilhabe am gesellschaftlichen Leben? Gute Frage. Manche werden's nie. Und andere, denen es noch nicht zugetraut wird, sind es längst.
Das zeigte sich in den vergangenen Tagen da, wo jungen Leuten eine Stimme gegeben wurde: vom immer wieder beeindruckenden Finale der Rhetorika bis zur Podiumsveranstaltung mit Politikern, die das Institut für Demokratiepädagogik und seine Partner vor mehr als 300 Sekundarschülern in Eupen organisiert hat. Das Ziel: sie über Politik zu informieren und für ihre Stimmabgabe zu sensibilisieren. Am Ende erklärte immerhin mehr als die Hälfte von ihnen, am 9. Juni zur Wahl gehen zu wollen.
Aber was heißt hier wollen? Dem "Worauf hättet ihr Lust?" setzt der Verfassungsgerichtshof entgegen: "Ihr müsst!" Weil: Gleichbehandlung aller Wähler. Wenn schon, denn schon. "So geht also Politik", werden sich die Jugendlichen sagen: Erst hatte sich die Vivaldi-Koalition ins Regierungsprogramm geschrieben, das Wahlalter herabsetzen zu wollen - auf Drängen von Ecolo/Groen und ausgehend von einer Entschließung des Europaparlaments, das Mindestalter bei den Wahlen zu vereinheitlichen - um, so wörtlich "die Wahlrechtsgleichheit der Unionsbürger weiter zu verbessern".
So wurde es denn auch in Belgien angenommen - mit der Einschränkung, dass die Stimmabgabe freiwillig sein sollte. Und dass sich die in Frage kommenden Jungwähler erst eintragen müssten, um ihre Stimme abgeben zu dürfen. Diese verpflichtende Eintragung wurde aber schon gekippt - eben wegen der Ungleichbehandlung von Wählern. Und auf die wiederum berief sich auch ein (erwachsener) Kläger, weil das auf den Weihnachtstag (!) 2023 datierte Gesetz zur Herabsenkung des Wahlalters bei der Europawahl ausdrücklich die Wahlpflicht für Volljährige bestätigte.
Diese Ungleichbehandlung lasse sich nicht zwingend rechtfertigen, erklärte der Verfassungsgerichtshof, sprich: alle 16- und 17-Jährigen werden nun d'office in die Wählerlisten für die Europawahl eingetragen, sie erhalten eine Wahlaufforderung und müssen am 9. Juni ins Wahlbüro - unter Androhung eines Bußgeldes, wobei das wegen der fehlenden Strafmündigkeit noch nicht so ganz klar ist.
Den Jugendlichen wird nun zum dritten Mal etwas anderes erzählt. Und das gerade mal 80 Tage vor den Wahlen. Mittelprächtig! Das haben Jugendverbände und Schülerorganisationen schon von sich hören lassen. Sie setzen sich seit langem fürs Wahlrecht (statt -pflicht) ein, weil die Jugendlichen selbst darüber befinden wollten, ob sie nun wählen gehen oder nicht, und weil erfahrungsgemäß noch nicht jeder 16-Jährige so weit sei ...
Demgegenüber haben wissenschaftliche Studien in Deutschland gezeigt, dass 16- und 17-Jährige in der Lage sind, gute Wahlentscheidungen zu treffen - und dass sie nicht weniger politisch informiert oder interessiert sind als die schon wahlberechtigten 18-Jährigen ... oder Ältere!
Wäre schön, wenn ihnen nach dem Erreichen der Mittleren Reife auch etwas politische Reife zugestanden würde. Das Interesse kommt schon noch. Auch wenn ihm etwas auf die Sprünge geholfen werden muss.
Stephan Pesch
Gut möglich, dass diese jungen Erstwähler vor allem rechts wählen. Besonders in Flandern.
Generell halte ich nicht viel von der Wahlpflicht. Es ist ein Akt der Entmündigung. Die Wahlpflicht löst kein Problem. Oder anders gefragt : welche Probleme würden entstehen, wenn es keine Wahlpflicht gäbe ?
Gut nun gibt es also eine Wahlpflicht für alle. Theoretisch. Nur frage ich, ob die Justiz überhaupt in der Lage ist, alle zu belangen, die nicht gewählt haben.