Mehr oder weniger wütende Bauernproteste, tagelang streikende Busfahrer und Lokführer, Krisen und Konflikte weltweit - und die kleine DG feiert sich selbst. Diesmal ging es um 40 Jahre Dekretbefugnis und eigene Regierung. Ist das schicklich? Blöde Frage! Warum sollte sie das nicht?
Erstens sucht man sich bestimmte Jahrestage nicht aus, zumindest diesen nicht. Zweitens bietet das die Gelegenheit, das Ganze mal zu reflektieren. Und drittens fällt so etwas leichter mit ein bisschen Abstand - warum es sich immer lohnt, auch ehemalige Insider zu befragen.
Ja, es gibt Grund zu feiern in dieser Deutschsprachigen Gemeinschaft, erst recht, wenn wir uns kurz vor Augen halten, woher wir kommen. Und wie das alles, was heute als selbstverständlich angesehen wird, mühsam aufgebaut werden musste - gegen innere Zweifel und Widerstände. Die sind auch heute angebracht, vor allem wenn sich Dinge im wahrsten Sinne des Wortes verselbstständigen.
Denn natürlich ist nicht alles Gold, was glänzt. Und Ostbelgien ist nicht der Nabel der Welt. Das muss man dem Ostbelgier nicht erklären. Über viele Generationen haben die Menschen hier erfahren, dass es besser ist, bescheiden und pragmatisch an die Dinge heranzugehen.
Wie es einer der wirklich maßgeblichen Akteure beim Festakt unter der Woche formulierte: Die Autonomie der deutschsprachigen Belgier ist kein Wunschkonzert. Und kein Selbstbedienungsladen, was doppeldeutig zu verstehen ist. Gemünzt war es hier darauf, dass diese Autonomie nur im Zuge der "fundamentalen" Umwälzungen des belgischen Staatsgebildes und innerhalb gewisser Rahmenbedingungen möglich war.
Den Rest müssen wir schon selbst machen. Nicht unbedingt allein, auch das wurde oft genug unterstrichen, aber selbstverantwortlich. Wie Erwachsene. Hier liegt nach wahlweise 40 oder 50 Jahren Autonomie die Crux: Den Kinderschuhen ist die DG längst entwachsen, auch Pubertät und Adoleszenz liegen weit zurück, selbst eine gewisse Reife ist ihr nicht abzusprechen.
Jetzt zeigen sich Anzeichen einer Midlife-Crisis - mit typischen Fragen wie die, ob das schon alles gewesen sein soll, was da noch kommt, und ob nicht manche liebgewonnene Gewohnheit in Frage gestellt oder abgestellt werden sollte.
Das ist jetzt nicht nur Sache der Politik. "Deutschsprachige Gemeinschaft" steht (anders als "Ostbelgien") zwar für die Institutionen, für Parlament, Regierung, Ministerium, für "Dienste mit getrennter Geschäftsführung" ... Und auch da ächzt und kracht an es verschiedenen Stellen.
Mit "Deutschsprachiger Gemeinschaft" ist sinnvollerweise aber eine Gruppe von Menschen gemeint (in Deutschland missversteht man uns - im Guten - gerne auch als "Deutsche Gemeinde", so wie "Jüdische Gemeinde" …) Das Schöne am sonst so komplizierten belgischen Staatsaufbau ist auch, dass damit eben nicht nur die hier lebenden deutsch sprechenden Belgier gemeint sind, sondern alle. Ja, auch die zugezogenen Bundesbürger, die hier heimisch gewordenen Flamen oder Niederländer, die seit eh und je dazugehörenden Frankophonen (auch diejenigen, die aus dem einen oder anderen Grund nicht deutsch sprechen wollen) und natürlich auch die nun wirklich überschaubare Zahl von Menschen mit noch entfernterem Migrationshintergrund.
Nun kommt es noch darauf an, dass alle merken, dass es sie angeht, was hier abgeht. Und dass sie etwas dazu beitragen können. Das muss nicht über den Bürgerdialog sein. Oder über eine Kandidatur bei Wahlen - aber warum eigentlich nicht? Das muss noch nicht mal öffentlich sein. Die Autonomie (das Zusammenleben überhaupt) ist, was wir daraus machen. Eben kein Wunschkonzert. Kein Selbstbedienungsladen. Mit dieser Einsicht ist schon viel gewonnen.
Stephan Pesch