Eigentlich sollten die Muster doch längst bekannt sein. Immer wieder hat der Kreml Rote Linien gezogen, die der Westen tunlichst nicht überschreiten durfte. Häufiger war es sogar noch so, dass die Außenwelt eben solche Rote Linien selbst definiert hat, quasi aus einer Art vorauseilendem Unbehagen heraus, nach dem Motto: "Wenn wir das tun, dann wird das dem Kreml wohl gar nicht gefallen und man muss wohl mit Vergeltung rechnen". In beiden Fällen schaukelte sich dann eine Drohkulisse hoch, eine Mischung aus tatsächlichen Warnungen aus Moskau und düsteren Untergangsszenarien im Westen. Am Ende wurde dann aber doch die jeweilige Rote Linie überschritten. Und passiert ist... nichts. "Zum Glück!", möchte man jetzt gleich hinzufügen, aber die Feststellung bleibt dieselbe: Passiert ist nichts.
So auch diesmal: Nachdem die USA und Deutschland nach langem - nach viel zu langem - Zögern am Ende doch die Lieferung von Kampfpanzern beschlossen haben, reagierte der Kreml mit einer Mischung aus Schulterzucken und Kriegsgeheul. Einmal hieß es: "Westliche Panzer hin oder her, das ändert nichts. Die machen uns keine Angst". Und dann wurde der Kreml-Sprecher Peskow zitiert mit den betont markigen Worten: "Diese Panzer werden wie alle anderen brennen". Und da schießt so mancher auch schon mal schneller als sein Schatten: Der Sprecher des russischen Verteidigungsministeriums hatte kürzlich stolz die Zerstörung von vier amerikanischen Bradley-Panzern bekanntgegeben. Problem war nur, dass bis dahin noch kein einziger Bradley in der Ukraine angekommen war...
Wie dem auch sei: Die Drohungen für den Fall eines Überschreitens angeblicher oder tatsächlicher Roter Linien, sie liefen bislang letztlich alle ins Leere, zumindest aus westlicher Sicht. Und das darf eigentlich auch nicht verwundern. Denn die Frage ist doch, wie die befürchtete Eskalation denn aussehen könnte? Das Arsenal an wirtschaftlichen oder energiepolitischen Vergeltungsmaßnahmen ist längst ausgeschöpft, bliebe also eine militärische. Allen voran wäre da die nukleare Option. In Moskau hat man ja immer mal wieder gerne den Begriff "Atomkrieg" in den Mund genommen. Nun, das, was im Kalten Krieg galt, das gilt immer noch, nämlich die sogenannte MAD-Doktrin. MAD ist eine englische Abkürzung, die für mutually assured destruction steht, "gegenseitig zugesicherte Zerstörung". "Mad" bedeutet nicht umsonst im Englischen auch "verrückt". Also, mal ganz plastisch ausgedrückt: Wenn jemand in Moskau auf den Atomknopf drückt, dann sind wir alle weg, aber eben auch der Kreml.
Zweite Option: Eine Ausweitung des konventionell geführten Krieges, der sich also plötzlich gegen die Nato selbst richten würde. Nur, mal ehrlich, und das soll nicht zynisch klingen, aber muss man eine Armee fürchten, die sich schon seit fast einem Jahr an der Ukraine die Zähne ausbeißt? Eine Armee, die sich aus der Vorstadt von Kiew und aus Cherson zurückziehen musste, soll plötzlich auf Warschau oder Helsinki marschieren? In den Träumen der Scharfmacher im russischen Staatsfernsehen vielleicht, aber in der Wirklichkeit erscheint das doch eher, sagen wir, "hypothetisch"...
Und, mal ganz davon abgesehen: In der Kreml-Rhetorik ist diese Eskalationsstufe ohnehin schon längst erreicht. Da ist doch schon von einem offenen Krieg gegen die Nato die Rede. Da wird gerne mal offen, mal zwischen den Zeilen, von einem großrussischen Reich schwadroniert, das bis Lissabon reichen soll. Und, wer die russische Propaganda kennt, der weiß: In Moskau braucht man gar keinen konkreten Grund, um einen Konflikt zu provozieren. Wenn es keinen direkten Anlass gibt, dann wird eben einer erfunden. Bestes Beispiel sind doch die vorgeschobenen Gründe für die angebliche "Spezialoperation" in der Ukraine.
Das alles nur um zu sagen: Man muss eigentlich gar nicht ständig, bei jeder Entscheidung, mit ängstlichen Augen auf den Kreml schielen, oder glauben, sich so verhalten zu müssen, dass man die Putin-Diktatur bloß nicht irgendwie provoziert. Das hat doch bis jetzt auch schon nicht funktioniert. Viel wichtiger und richtiger wäre es, wenn der Westen klar seine Ziele formulieren und dann auch entsprechend und konsequent agieren würde. Konkret: Wenn es das Ziel ist, dass die Ukraine den Krieg nicht verliert, besser noch gewinnt, nun, dann trifft man eben seine Entscheidung immer in diesem Sinne, dann wird dieses Ziel zum alleinigen Handlungsleitfaden.
Denn, bei alledem darf man nicht am Ende unbewusst der Logik derer folgen, die Russland in der Opferrolle sehen oder den Angriffskrieg sonst wie legitimieren. Ums nochmal deutlich zu sagen: Die Kriegstreiber sitzen in Moskau. Gleich welche Großmachts-Nostalgie, gleich welche geopolitischen Befindlichkeiten das Putin-Regime auch zu diesem Krieg veranlasst haben mögen, es gibt nichts, rein gar nichts, das auch nur annähernd rechtfertigt, was der Ukraine und ihren Bürgern da gerade angetan wird: Die gezielte Zerstörung der zivilen Infrastruktur; die systematische Misshandlung beziehungsweise Vergewaltigung von unschuldigen Männern und Frauen, die mutmaßliche Deportation von Tausenden ukrainischen Kindern.
Die einzige wirklich reale Eskalation ist die, die man in der Ukraine sehen kann, wo die russischen Angreifer immer barbarischer vorgehen. Und jedes Zögern begünstigt eben noch diese Eskalation. Waffen an die Ukraine zu liefern bedeutet nicht, dass man den Krieg und das Leiden verlängert, wie es Putin-Versteher immer wieder glauben machen wollen. Hier geht es nur darum, einem souveränen Staat zu helfen, sich gegen einen brutalen, alles zermalmenden Angreifer zu verteidigen. Der Ukraine zu helfen ist längst eine moralische Pflicht. Und nur so wird eigentlich auch erst eben jene Eskalation verhindert, die dem einen oder anderen im Westen derzeit den Schlaf zu rauben scheint. Denn: Würde die Ukraine fallen, dann stünde die russische Armee tatsächlich an der Grenze zu EU und Nato. Und nichts deutet darauf hin, dass Putin dann anhalten würde...
Roger Pint
Treffsicherer Kommentar - wie immer.