Ist nun Emmanuel Macron der am schlechtesten gewählte Präsident der V. Republik, wie der Linksaußen-Kandidat Jean-Luc Mélenchon noch am Wahlabend feststellte? Tatsächlich blieben rund 28 Prozent der Wahlberechtigten der "Schicksalswahl" Macron/Le Pen gleich fern, etwas mehr als sechs Prozent wählten "weiß" oder ungültig. Aus 58,5 Prozent der gültig abgegebenen Stimmen werden so nur noch 38,5 Prozent der Wahlberechtigten. Schlechter schnitt als Wahlsieger nur Georges Pompidou ab, ein Jahr nach Mai 68. Aber auch François Hollande erging es 2012 kaum besser.
Dabei sollte das absolute Mehrheitswahlrecht mit seiner Eindeutigkeit doch ganz nach dem Geschmack der Wähler sein - auch wenn gerade viele Anhänger von Mélenchon in der Stichwahl nur die Wahl zwischen Pest und Cholera sahen. So oder so ist es noch einmal gutgegangen. Nicht nur für die EU, sondern auch und gerade für die Franzosen. Das wird sie nicht davon abhalten, dem frisch Wiedergewählten vielleicht schon bei den Parlamentswahlen im Juni einen Denkzettel zu verpassen - oder sich darüber zu beklagen, was "die Politik" so alles mit ihnen anstellt.
Das ist nicht nur in Frankreich so. In Sorge um die westliche Demokratie, wie sie derzeit von innen mit Zutun von St. Petersburger Troll-Armeen bedroht wird und ganz offen durch einen Angriffskrieg des Ober-Trolls, ist "die Politik" nicht erst seit gestern bemüht, die Bürger mit ins Boot zu nehmen.
Manche Versuche erscheinen dabei wie "Potemkinsche Dörfer". Diesen Eindruck habe ich, wenn ich auf die Online-Plattform demain-toekomst-zukunft.be geleitet werde, eine Art "nationales Brainstorming", wie es heißt und genau so kommt es auch rüber. Zweifellos gutgemeint, aber - was bitte schön - soll denn dabei herauskommen? Der VRT-Journalist Ivan De Vadder geriet förmlich aus der Fassung, als er diese Übung als "immense Verschwendung von Zeit und Geld" abqualifizierte.
Mitspracheangebote in allen Ehren, aber für ein so komplexes Thema wie die Staatsreform in Belgien braucht es mehr als einen unverstellten Blick oder ein "Bauchgefühl". Daran haben sich Generationen von Politikern, Politikwissenschaftlern und Staatsrechtlern die Zähne ausgebissen - und etwas wirklich Vernünftiges ist bis heute nicht dabei herausgekommen. Käme auf den Versuch an? Also bitte, daran glauben doch nicht einmal die beiden Sonderbeauftragten Annelies Verlinden und David Clarinval. Wetten, dass Ivan De Vadder recht behält: Außer Spesen nichts gewesen!
Wie es laufen kann, zeigt ausgerechnet der kleinste Gliedstaat im reformierten belgischen Staatsgefüge: Der hier eingeführte permanente Bürgerdialog hat seinen ersten Praxistest bestanden, wie noch Anfang der Woche im PDG bei der Aussprache über die Empfehlungen zum Thema "Pflege" festgehalten wurde. Und während "die Politik" derzeit an der Umsetzung der Bürgerempfehlungen zu den Themen "Wohnen" und "Inklusion macht Schule" arbeitet, ist die vierte Runde in der Mache. Thema: "digitale Fähigkeiten". Wieder wurden 1000 Bürger ausgelost, die in den kommenden Tagen Post erhalten werden mit der Frage, ob sie an der Bürgerversammlung teilnehmen möchten. Bitte, nur zu!
Das Entscheidende am "Ostbelgien-Modell" des Bürgerdialogs ist ja sein permanenter, also fortwährender Charakter. Auf Dauer erfahren so immer mehr Bürger am eigenen Leib, wie Politik funktioniert - und im kleinen Ostbelgien können sie es auch noch weitererzählen.
Nun ist auch der permanente Bürgerdialog kein Allheilmittel. Es braucht viele Initiativen auf vielen Ebenen wie die gerade wieder laufenden Aktionstage Politische Bildung, Selbsterfahrungen wie das interaktive Theaterstück "Lokal Europa", Schülerräte und Jugendparlamente, Bürgerbudgets und Örtliche Kommissionen für Ländliche Entwicklung. Und Medienkompetenz. Vor allem Medienkompetenz. Dann können wir auch damit umgehen (lernen), wenn sich ein Milliardär mal eben Twitter unter den Nagel reißt. Oder wenn russische Trollfabriken mal wieder Fake-News verbreiten.
Beim Arztbesuch verheißt der Aufruf "Der Nächste, bitte!" Linderung. Beim Bürgerdialog bedeutet er nicht nachzulassen.
Stephan Pesch
Guter Kommentar. Herr Pesch.
Aber warum so ängstlich ? Warum fordern Sie nicht direkte Demokratie nach Schweizer Modell ? Was in der Schweiz möglich ist, kann auch hierzulande funktionieren.Es sollte zumindest eine öffentliche Debatte darüber geben.
Jetzt sind die Bürger also wahlmüde...? Ich kann nur folgendes dazu sagen... "siehe Celine Kever" Das System muss dringend erneuert und verbessert werden, doch werden die Politiker selber es nicht machen...
Egal wie man es dreht und wendet, die westliche Demokratie befindet sich in einer Legitimationskrise.Das Aufkommen radikaler linker und rechter Parteien zeigt dies, auch die stetig größere Bedeutungslosigkeit traditioneller linker Parteien.Und heutzutage sitzen größtenteils Akademiker in den Parlamenten.Es ist kein Abbild mehr des Bevölkerungsdurchschnitts.Früher konnte sich ein Handwerker oder Arbeiter noch in einer linken Partei hocharbeiten.Das geht heute nicht mehr.Deshalb interessieren sich immer weniger Handwerker oder Arbeiter für Politik und gehen aus Enttäuschung nicht wählen.
Daher muss nicht nur die Mitbestimmung mittels direkter Demokratie verbessert werden, sondern der Zugang zu politischen Ämtern muss auch Nicht-Akademikern möglich sein.Die persönlichen Fähigkeiten und der Charakter müssen das entscheidende Kriterium sein und nicht das Uni oder Hochschukdiplom wie es jetzt größtenteils der Fall ist.