Was für ein Affront! Das deutsche Staatsoberhaupt, der Bundespräsident, soll nicht nach Kiew reisen. Eigentlich wollte Frank-Walter Steinmeier gemeinsam mit dem polnischen Präsidenten Andrzej Duda die ukrainische Hauptstadt besuchen. Als "starkes Zeichen der Solidarität". Doch das war von ukrainischer Seite nicht erwünscht. Angeblich. Inzwischen wird diskutiert, wer wann wem nicht abgesagt hat und ob man sich unter solchen Umständen beleidigt fühlen darf. Die viel wichtigere Frage, nämlich welche Unterstützung die Ukraine überhaupt braucht und was wir bereit sind zu geben, gerät in den Hintergrund.
Solidarität braucht sie, da war sich Frank-Walter Steinmeier zumindest bis vor einigen Tagen sicher. Und damit war er nicht alleine. Auch am PDG weht die ukrainische Flagge im friedlichen Wind, die ukrainische Hymne hat bereits die letzte Plenarsitzung eröffnet, übermotivierte Abgeordnete stimmten gar mit "tak" - ukrainisch für "ja" ab. Ja zum Nein zum Krieg. Alles starke Zeichen der Solidarität.
Und auch an die Bevölkerung wird appelliert. Spätestens seit der Corona-Pandemie ist die Solidarität ein inflationär gebrauchter Begriff. Und auch jetzt soll sich solidarisch verhalten werden - gegenüber jenen, die vor Krieg, Zerstörung und Leid fliehen. Das ist selbstverständlich, das gebietet die Moral.
Doch was beinhaltet Solidarität eigentlich? Schauen wir uns die letzten Krisen an, dann geht es bei Solidarität in erster Linie um Verzicht. Das war schon während Corona so. Solidarität war dann gefragt, wenn sich die Bürger einschränken mussten. Sollten die Risikopatienten geschützt werden, mussten alle, und somit auch alle anderen, sich in ihren Freiheiten begrenzen. Und auch während der Flut war Solidarität mit Geben verbunden. Man gab seine Zeit oder sein Geld. Das bescherte in beiden Fällen Dank, vielleicht auch Genugtuung. Eine wertvolle Entschädigung, allerdings keine materielle.
Das scheint jetzt anders zu sein. Denn auch der solidarische Ostbelgier soll in diesen harten Zeiten nicht vergessen werden. Laut dem Ministerpräsidenten werden Investitionen in Bildung und Soziales vorgezogen und erhöht, getreu dem Motto "Mehr ist mehr". Worin das Geld genau investiert wird, warum gerade in diese Bereiche - und wieso gerade jetzt? - das musste gar nicht präzisiert werden. Dazu passt auch, dass der Ministerpräsident in dem Zusammenhang erklärte: "Wir können uns die Solidarität leisten." Als sei dieser zutiefst humane Wert etwas, das man so einfach erwerben kann.
Überraschenderweise - oder vielleicht auch nicht - ist in Ostbelgien der Weg von der Solidarität hin zu angeblichen Neiddebatten nicht sehr weit. Hierüber zeigen sich die hiesigen Politiker besorgt, so dass ein PDG-Ausschuss sich bereits dem Thema widmete. Im Ausschuss bemerkten die Parlamentarier, dass auch die Ostbelgier, allen voran die Geringverdiener unter dem Krieg leiden. Das stimmt: Steigende Lebensmittel- und Rohstoffpreise, wachsende Energiekosten stellen einige Menschen vor erhebliche Probleme. Das gilt es ernst zu nehmen.
Sozialminister Antonios Antoniadis machte hingegen deutlich, dass die Flüchtlinge einen Teil ihrer Sozialhilfe oder ihres Einkommens für die Unterkünfte im Aufnahmezentrum Worriken aufbringen müssen. Was das jetzt den Hiesigen bringt, die besonders stark unter den Folgen des Krieges leiden? Genau.
Solche Diskussionen nehmen mögliche Neiddebatten alles andere als ernst - sie entkräften höchstens reißerische Parolen. Sie helfen den Menschen nicht weiter, die unter einer verfehlten Energiepolitik leiden. Ganz ähnlich, wie missverstanden wird, was Solidarität ist. In beiden Fällen geht es nicht darum, wer was gibt. Es geht darum zu sehen, wer was wirklich braucht.
Andreas Lejeune
Guter Kommentar
Der Ukrainekrieg bietet vielen Moralaposteln und Heuchlern aus der Politik eine gute Gelegenheit, sich für den nächsten Wahlkampf zu profilieren.