"Tout ça pour ça". So lautet die Titelzeile des Sonderhefts von "Charlie Hebdo" über einer Galerie der umstrittenen Mohammed-Karikaturen, die der Auslöser waren für das Attentat Anfang 2015. Zack! Treffender konnten sie den beiden Attentätern und ihren Helfershelfern nicht den gestreckten Mittelfinger zeigen.
"Mon Dieu", dachten sich da empfindsamere Gemüter: Macht das die ganze Sache nicht noch schlimmer? Ich finde, es ist die einzig richtige Reaktion.
Nicht nur im Land von "Charlie Hebdo" berufen sich die Leute in puncto Meinungsfreiheit gerne auf den Philosophen und Schriftsteller François-Marie Arouet, besser bekannt unter seinem Pseudonym Voltaire. Er war ein Vordenker der Aufklärung, die unser Denken und unsere Gesellschaftssysteme maßgeblich bestimmt.
In letzter Zeit taucht Voltaire als Gewährsmann immer mal wieder in den Social Media auf - mit einem Zitat, das für seinen sarkastischen Witz stehen könnte. Es lautet: "Ich verachte Ihre Meinung, aber ich gäbe mein Leben dafür, dass Sie sie sagen dürfen."
Mal abgesehen davon, dass ihm dieses Zitat fälschlicherweise zugeschrieben wird, stört mich, in welcher zweifelhaften Nachbarschaft dieser ja noch sympathische Sinnspruch auftaucht - und was sich alles damit entschuldigen lässt. Wenn etwa nur einen Post weiter vor satanistischen Umtrieben einer Regierung gewarnt oder der möglichst baldige Einmarsch russischer Truppen gefordert wird. Leute, geht's noch?
Zu Zeiten Voltaires musste um Bürgerrechte wie die Meinungsfreiheit noch gekämpft werden. Wie wichtig sie heutzutage in westlichen Demokratien erachtet wird, beweist nicht nur die Tatsache, dass öffentlich fast alles gesagt werden darf oder der Staat auch Menschen erlaubt zu demonstrieren, die diesen Staat ... abschaffen wollen.
Irgendwann ist aber auch gut. Und dann ist es wichtig, den ersten Teil des angeblichen Voltaire-Zitates zu beherzigen: Indem ich mich deutlich von einer Meinung distanziere, die ich für dumm oder gefährlich oder für beides halte.
In einem BRF-Interview erklärt die Sozialpsychologin Pia Lamberty auf die Frage, wie man am besten mit Verschwörungstheorien im Netz umgehen soll, dass es schwer sei, dem Phänomen beizukommen. Man solle nicht davon ausgehen, eine fremde Person in den Social Media überzeugen zu können. Im Gegenteil.
Mit Blick auf die "stillen Mitleser" könne es aber wichtig sein, auf zweifelhafte Quellen hinzuweisen und gegenzuhalten, etwa wenn menschenverachtende Inhalte transportiert werden. Das wäre doch schon mal ein Anfang.
Stephan Pesch
Leider wird es immer schwieriger die Schreihälse zu übertönen, geschweige denn überzeugen.
👍👍👍
"Je suis Corona"
Herr Pesch, den Worten Ihres Kommentars kann ich uneingeschränkt beipflichten.
Es stimmt, dass das Voltaire irrtümlich zugeschriebene Zitat zumeist von Leuten gebraucht (missbraucht) wird, die es sonst mit den Menschen- und Bürgerrechten nicht so genau nehmen.
Selbst wenn Voltaire das so geschrieben haben könnte, sollte man nicht meinen, er rede einer profillosen Tolerierung jedweder Meinung das Wort. Nein, er war ein erbarmungsloser Kritiker von Religion und Staat, die absolutistisch festlegten, was als Wahrheit zu gelten hatte, und die jeden Kritiker oder Zweifler mit brutaler Gewalt zum Schweigen brachten. Gegen diese physische Unterdrückung Andersdenkender kämpfte Voltaire und forderte Toleranz.
Dass er dabei unbarmherzig auch die Meinung anderer lächerlich machen konnte, war für ihn kein Widerspruch dazu.
Einen guten Einblick in seine Denkweise erhält man bei der Lektüre seiner Streitschrift „Traité sur la Tolérance“. Als Hörbuch auf Youtube auch auf Deutsch abrufbar. 2020 genauso aktuell wie 1763. Und nicht nur wegen der Islamisten…