Brüsseler sind keine Wallonen, hört man häufig im frankophonen Landesteil. Und das ist keine Aussage nach dem Motto: "Ceci n'est pas une pipe". Nein! Der Brüsseler würde sich nie als Wallone bezeichnen. Umgekehrt gilt im Übrigen das Gleiche.
Aber auch auf der anderen Seite der in Brüssel unsichtbaren Sprachgrenze verhält sich das ähnlich. Von "Brüsseler Flamen" zu sprechen, gilt als "No-Go". Akzeptierter ist wohl "niederländischsprachige Brüsseler". Naja, der Teufel liegt, wie so oft in Belgien, im Detail.
So manchem Ostbelgier mag das bekannt vorkommen. Wer sich, zumal als wallonischer Regionalpolitiker, in der DG unbeliebt machen will, der muss nur die Formel "deutschsprachige Wallonen" verwenden.
Doch die Parallele geht weiter. Was Ostbelgier und Brüsseler verbindet: Beide bekennen sich vergleichsweise eindeutig zu Belgien - bei der letzten Staatskrise sah man nirgendwo so viel schwarz-gelb-rot wie in Brüssel. Beide pflegen aber zugleich auch sehr nachdrücklich ihre eigene Identität. Auf das politische Personal in der Hauptstadt bezogen heißt das: "Brussels first". Erst kommt Brüssel.
Und es ist auch nicht verwunderlich, dass die Hauptstädter so eine Art Wagenburgmentalität entwickelt haben. Insbesondere die flämischen Nationalisten sprechen Brüssel nämlich schlicht und einfach den Status einer Region ab. Der Konföderalismus à la N-VA sieht im Übrigen auch nur zwei große Teilstaaten vor: Flandern und die Wallonie; Brüssel und die Deutschsprachige Gemeinschaft bekämen ein "Sonderstatut", wie es heißt. Immer wieder geistert auch die Idee eines Kondominiums durch die Rue de la Loi: Brüssel würde demnach unter gemeinsame Ko-Verwaltung gestellt von Flandern und der Wallonie. "Brüssel soll von Antwerpen und Charleroi aus regiert werden? Nur über unsere Leiche", sagen da alle Hauptstädter im Chor, und das in allen Sprachen.
Kein Wunder also, dass bereits im ersten Satz der Einleitung des neuen Brüsseler Regierungsabkommens steht: "Brüssel ist eine vollwertige und eigenständige Region".
Das musste offensichtlich nochmal gesagt werden, da man das manchmal auch auf frankophoner Seite allzu schnell zu vergessen scheint. Im vorliegenden Fall gilt das für die Liberalen. Die MR wollte unbedingt mit von der Partie sein. Und hat dafür buchstäblich alle Hebel in Bewegung gesetzt. Zunächst hat die MR anscheinend unverhohlen zu verstehen gegeben, dass es den Regierungsverhandlungen in der Wallonie wohl nicht dienlich sein würde, wenn sie in Brüssel draußen bliebe. Hilfe gab's dann aber auch von der OpenVLD, die quasi auf der Ziellinie bei voller Fahrt die Handbremse gezogen hatte. Die flämischen Liberalen drohten, alles zu blockieren, um eine Regierungsbeteiligung ihrer frankophonen Schwesterpartei zu erzwingen. "Die MR hat ein mieses Spiel gespielt", giftete jedenfalls der alte und neue PS-Ministerpräsident Rudi Vervoort in der Zeitung Le Soir.
In beiden Fällen muss das den Brüsselern wie der Versuch einer externen Einflussnahme vorgekommen sein. Sogar den eigenen Leuten. Fakt ist, dass sich der Brüsseler OpenVLD-Mann Sven Gatz über die Order der Parteizentrale hinweggesetzt hat. Er mag dabei an das eigene Pöstchen gedacht haben. Zuzutrauen ist ihm aber auch, dass der Brüsseler da bei ihm durchgekommen ist.
Damit das klar ist: Diese "Brussels-First"-Mentalität, die ist total in Ordnung! So geht nun mal Bundesstaat. Wie die Zeitung De Standaard richtigerweise schreibt: Durch die diversen Staatsreformen ist ein Land entstanden mit eigenständigen Gliedstaaten, die eigenständige Regierungen haben mit eigenen Zuständigkeiten. Und da kann man keine Politik machen, die indirekt davon ausgeht, dass der Einheitsstaat noch existiert. Im Klartext, kurz und knapp: Jede Region, jede Gemeinschaft hat ihre eigene Dynamik, ihre eigenen politischen Gesetzmäßigkeiten. Der umgekehrte Fall, nämlich "aufs Auge gedrückte" Koalitionen, so etwas sollte endgültig der Vergangenheit angehören.
Eine kleine Klammer kann man sich da aber nicht verkneifen. Eben diese "Eigendynamik" der Regionen, das sollte doch eigentlich das Steckenpferd eines jeden Nationalisten sein. Und die N-VA versucht ja auch genau so den Frankophonen ihren Konföderalismus zu verkaufen, nach dem Motto: "Wenn die Wallonen eine extremlinke Regierung wollen, dann sollen sie die auch bekommen können". Seltsam nur, dass N-VA-Chef Bart De Wever jetzt in Flandern den Pausenknopf gedrückt hat. Begründung: Man müsse erst abwarten, was auf der föderalen Ebene passiert. Böse Zungen würden sagen, dass De Wever und seine Nationalisten plötzlich Angst vor der eigenen Autonomie haben...
Klar: Die Erklärung ist natürlich eine andere. De Wever braucht Hebel, um den Druck auf dem föderalen Kessel aufrecht zu erhalten.
Brüssel zeigt derweil: So unlösbar muss eine belgo-belgische Gleichung gar nicht sein. Nicht vergessen: In Brüssel saßen drei niederländischsprachige und drei frankophone Parteien an einem Tisch. Und doch hatte man nach zwei Monaten eine Regierung. Aber da sind wir wohl wieder bei "Brussels-First": Was die Brüsseler Verhandlungspartner letztlich geeint hat, französischsprachige wie niederländischsprachige, das ist zweifellos die gemeinsame Liebe zu Brüssel. Nun, drei Mal darf man raten, warum auf der föderalen Ebene bislang nichts passiert ist...
Roger Pint