In Flandern sagten in einer breit angelegten Umfrage unter Erstwählern 26 Prozent, sie hätten lieber einen Führer als eine Demokratie. Wenn ältere Generationen das hören, wird ihnen übel. Zu Recht. Aber wenn man mal von der Provokation, die schon in der Fragestellung liegt, absieht, zeigt die Antwort doch genau das Problem unserer Demokratie: Politikverdrossenheit.
Leider ist das nur scheinbar eine einfache Antwort, denn die Gründe für Politikverdrossenheit sind vielfältig. Sie entsteht durch Unzufriedenheit mit dem politischen System, durch Ablehnung der aktuellen Politik. Aber laut der Deutschen Bundeszentrale für politische Bildung auch durch allgemeine Zufriedenheit.
Politikverdrossenheit, ein Erste-Welt-Problem? Aber warum hört man dann in der DG in den letzten Wochen auf manche Gemeinden bezogen ziemlich oft Sätze wie "Das ist die Wahl zwischen Pest und Cholera"?
Die Unzufriedenheit mit den Wahlmöglichkeiten ist groß. Entweder, weil es nur eine Liste gibt, oder, weil der amtierende Bürgermeister nicht mehr antritt. Einer der beiden Fälle trifft auf fast alle DG-Gemeinden zu. Diese Wahl ist entweder schon entschieden, oder absolut unvorhersehbar. Dementsprechend hoch ist auch die Unsicherheit unter den Wählern. Viele werden sich wohl erst in der Kabine selbst entscheiden, wo sie ihr Kreuzchen machen. Und diese Unsicherheit macht viele unzufrieden.
Dass es dabei nicht unbedingt um Unzufriedenheit mit den Politikern geht, zeigen Zahlen. Laut der letzten DG-Umfrage sind nämlich fast drei Viertel der Menschen hier mit der Politik auf Gemeindeebene zufrieden. Jetzt wird es in sechs von neun Gemeinden einen neuen Bürgermeister geben. Die Politikverdrossenheit hier kommt eher durch Zufriedenheit. Es scheint, vielen wäre es lieber, alles bliebe so wie es ist. Warum wählen, wenn es doch gut klappt?
Diese Tendenz zeigt sich auch in Gemeinden, wo nur eine Liste zur Wahl steht. Das passiert nicht, weil dort die Opposition unterdrückt wurde, sondern weil sich einfach niemand als Opposition aufgestellt hat. "Wir laufen Gefahr, die Demokratie zu verlieren, weil wir bereit sind, sie aufzugeben", sagt Ed Lingao, ein Journalist aus Manila. Das stimmt auch hier in der DG.
Provokativ könnte man jetzt fragen, wo der Unterschied ist zwischen Erstwählern, die sich einen Führer wünschen und Gemeinden, in denen niemand sich gegen die einzige Liste stellt, die zur Wahl steht. Das macht natürlich keiner, der Vergleich hinkt ja auch, aber es gibt eine große Parallele. Die Politikverdrossenheit.
Daran sollten Politiker und Wähler in den nächsten sechs Jahren arbeiten. Sie müssen die Demokratie wieder interessant machen. Desinteresse an der Politik gibt es nicht, weil die Themen uninteressant sind. Fragt man, was die Leute zum neuen Wetzlarbad denken oder zum Trinkwasser in Bütgenbach, bekommt man oft versierte und interessante Ansichten. Auch an fehlendem Engagement liegt es nicht. In der DG sind allein 26.000 Menschen in Vereinen aktiv - Ehrenamtliche gibt es aber noch viel mehr.
Der Fehler liegt im System. Die Demokratie, wie sie heute praktiziert wird, ist überholt. Zu viele Skandale haben das Vertrauen in die Politiker erschüttert. Zu wenig Antworten gibt es auf die drängendsten Fragen unserer Zeit. Diese Probleme betreffen zwar die Gemeindepolitik eher weniger, aber das Fazit ist dasselbe:
Wer wirklich etwas gegen Politikverdrossenheit tun will, der muss von seinem bequemen Sessel runter, und zuhören. Das geht über Bürgerbeteiligung, die wirklich so gemeint ist. Zum Beispiel indem man ernsthaft Spielräume im Gemeindehaushalt für Projekte von Bürgern vorsieht und nicht Vereine um wenige hundert Euro Subsidien betteln lässt. Das geht auch, indem man die Vorteile der Digitalisierung nutzt, um breit angelegte Bürgerbefragungen durchzuführen oder um aktuell und umfassend über Projekte zu informieren. Das alles sind kleine Maßnahmen, die in jeder Gemeinde möglich sind, wenn nur der Wille da ist.
Es ist an der Zeit, das System weiter zu entwickeln. Die Demokratie braucht keine Führer, sondern ein Update. Nur so hat sie gegen Politikverdrossenheit eine Chance.
Anne Kelleter
Guter Kommentar Frau Kelleter,
Die Demokratie muss sich weiterentwickeln. Es muss mehr sein, wie nur alle paar Jahre irgendwo ein Kreuz machen. Es ist doch bestimmt machbar, ähnlich amerikanischen Vorwahlen, den Wähler in die Kandidatenauswahl mit einzubeziehen. Bei Gemeinderatswahlen wäre es denkbar, ein Jahr vor den Wahlen einen öffentlichen Kandidatenaufruf zu machen, damit die Kandidatenauswahl mehr transparent wird. Bis jetzt geschieht ja alles hinter verschlossenen Türen und lässt viel Platz für Spekulation über geheime Absprachen. Vielleicht ist es so einfacher Interessierte zu finden, als nach Art und Weise der Zeugen Jehovas von Tür zu Tür zu pilgern. Ein Versuch wäre es wert.