"Es hätte noch schlimmer kommen können". Das sagen die, die noch nicht die Fassung verloren haben oder die noch nicht in Verzweiflung versunken sind. Ja, es hätte schlimmer kommen können. Trump hätte etwa den Austritt der USA aus der Nato verkünden können. Das allerdings ist nicht so einfach, wie es sich das selbsternannte "stabile Genie" aus Washington vielleicht vorstellt. Oder er hätte die Annexion der Krim anerkennen können und damit den Russen einen Persilschein gegeben für Politik der Wiederherstellung alter Größe. Beides ist nicht passiert. Noch nicht. Allein die Tatsache, dass solche Szenarien im Raum standen, zeigt aber schon, wie es um "den Westen" bestellt ist.
Den Europäern muss klar sein, was hier passiert. Hier ist gerade einer dabei, mit ungeahnter Wucht und mit brutaler Effizienz die Nachkriegsordnung einzureißen. Jene Welt, die 1945 aus den Trümmern geboren wurde und die für Europa gleichbedeutend war mit bald 75 Jahre Frieden. Der "Westen", spätestens jetzt muss man den Eindruck haben, er bestehe nur noch auf dem Papier. Nach seiner Rückkehr in die Heimat hat Donald Trump schließlich gleich wieder die NATO-Beistandsklausel infrage gestellt - indirekt, aber dennoch.
Das war nach dem Gipfel von Helsinki, dem Treffen mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin. Welch ein Kontrast. Der Mann, der kurz zuvor noch auf dem diplomatischen Parkett in Brüssel und in Großbritannien gewütet hatte, der langjährige Freunde verunglimpft, beschimpft, gedemütigt hatte, eben dieser Donald Trump genoss es, mit dem russischen Amtskollegen regelrecht zu schmusen. Eben diesem Putin, der einem Land vorsteht, das für den Abschuss des Fluges MH17 verantwortlich gemacht wird. Die Tragödie hat sich ausgerechnet in dieser Woche zum vierten Mal gejährt. Eben dieser Putin, der die sogenannten "Grünen Männchen" auf die Krim beordert hat, um das Gebiet danach über ein angebliches "Referendum" zu annektieren. Eben dieser Putin, der anscheinend direkt den russischen Geheimdienst angewiesen hat, sich in die US-Wahl von 2016 einzumischen. Gerade mal drei Tage vor Helsinki hatten US-Behörden zwölf Mitarbeiter des russischen Geheimdienstes in dieser Sache unter Anklage gestellt.
All das hat Donald Trump nicht daran gehindert, den Mann aus Moskau zu hofieren, so sehr, dass er am Ende wie Putins Schoßhündchen herüberkam...
Das lässt eigentlich nur noch zwei Schlüsse zu: Entweder, der ehemalige Geheimdienstler Wladimir Putin hat etwas gegen Donald Trump in der Hand - "Kompromat" nennt das der Russe. Oder aber, und das ist aus europäischer Sicht beunruhigender: Helsinki kann als Beweis dafür gesehen werden, dass beide Männer zutiefst seelenverwandt sind. Sagen wir mal so: Der eine macht, was der andere gerne machen würde, Meister und Geselle. Beide haben einen Hang zum autoritären Regierungsstil; allein muss sich Trump noch mit einem Parlament, einer Zivilgesellschaft und einigen kritischen Medien herumärgern. Da ist Putin schon einen Schritt weiter: Die politische Opposition und auch die kritische Presse wurde weitgehend ausgeschaltet oder ins Exil der Bedeutungslosigkeit geschickt. Beide sind eingefleischte Nationalisten und glauben zudem an das Gesetz des Stärkeren. Und daraus ergibt sich der Punkt, der den Europäern Sorgen bereiten muss: Beiden ist die EU als Block ein Dorn im Auge. Donald Trumps Handelskriege hätten natürlich bedeutend größere Erfolgschancen, wenn er sich die Gegner einzeln herauspicken könnte; da könnte man auch locker das eine Land gegen das andere ausspielen. An einer Einheit von 27 Staaten dagegen muss man sich erstmal abarbeiten. Ähnlich denkt ein Wladimir Putin. In Ermangelung eigener Größe ist es aus Moskauer Sicht einfach strategisch von Vorteil, wenn die anderen möglichst klein sind.
Spätestens am letzten Montag müssen die Europäer erkannt haben, dass sie an einem Scheideweg stehen. Man wäre jedenfalls gut beraten, in Donald Trump keinen cholerischen Geisteskranken zu sehen, der "nur" unbeholfen tölpelhaft herumstolpert. So grobschlächtig einfältig er daher kommt, er hat ein Weltbild; und seine derzeitige Funktion gibt ihm schlichtweg die Macht, daran zu zimmern. In Helsinki hat man die Schatten eines Zweckbündnisses gesehen, den Keim einer Koalition von Kräften, die ein strategisches Interesse daran haben, Europa zu spalten - in den Köpfen und auch auf dem politischen Schachbrett.
Die Reaktion der EU war jedenfalls die richtige. Erstens: Die EU-Spitzen haben sich nicht auf die verbale Eskalation eingelassen, sondern -wie als Kontrast- demonstrativ Ruhe bewahrt. Die Botschaft an Washington: "Wenn es nach uns geht, dann bleiben wir Freunde. Aber, nichts für ungut, wir werden uns auch nicht alles gefallen lassen". Und, zweitens: Ausgerechnet in dieser Woche hat die EU ein Freihandelsabkommen mit Japan unterzeichnet. Die Botschaft hier: "Wir setzen nach wie vor auf den internationalen Handel - und wenn nicht mit Euch, dann eben mit anderen".
Das ist der Weg! Der einzige! Nämlich ein resolut europäischer! Kleine Klammer, aber was nach Wunschdenken klingt, das könnte inzwischen sogar den Europaskeptikern aufgehen. Großbritannien hat vor einigen Tagen schmerzlich erkennen müssen, dass die USA im Zweifel doch nicht der "privilegierte Partner" sind, auf den man doch eigentlich gebaut hatte für den globalen Alleingang. Und auch die Polen oder Ungarn sollten mal über das nachdenken, was sie in Helsinki gesehen haben. Gerade in Warschau hat man nach der jahrzehntelangen Fremdbestimmung durch die UdSSR immer auf die Amerikaner gesetzt; wenn sich die NATO und eben insbesondere die USA doch nicht mehr als so verlässlich erweisen, dann kommt man vielleicht auch in Osteuropa auf den Trichter, dass die EU im Zweifel zumindest das "verlässlichere Übel" ist.
Europa muss in jedem Fall jetzt den Platz auf der Weltbühne einnehmen, den es aufgrund seiner wirtschaftlichen und demographischen Stärke durchaus beanspruchen kann. Damit einher geht eine gemeinsame europäische Verteidigungspolitik - eine entschlossene! Ansonsten bleibt der alte Kontinent abhängig und im schlimmsten Fall auch erpressbar. Das von Trump ausgegebene Zwei-Prozent-Ziel sollte Europa denn auch nicht einfach so verwerfen. Nicht, um Trump zu besänftigen. Sondern um auf Dauer auf eigenen Füßen stehen zu können. Hilf Dir selbst, dann hilft Dir Gott!
Roger Pint