Wimmernde Kinder, die kläglich nach ihren Eltern rufen. Verstörende Tonaufnahmen wurden vor einigen Tagen aus einem der Kinderlager in den USA herausgeschmuggelt. Sie machten das Leid hör- und damit "fühlbar". Davon abgesehen, dass die Bilder eigentlich schon abstoßend genug waren. So weit ist es also schon gekommen. Hilflose Kinder von ihren Eltern zu trennen, nur um eine drastische Form der Abschreckung zu praktizieren, das ist psychische Brutalität eines neuen Ausmaßes. Selbst, wenn sie inzwischen auch auf Eis gelegt wurde, diese unbarmherzige und einer Demokratie unwürdige Maßnahme zeigt, wie weit der Prozess der Entmenschlichung schon vorangeschritten ist.
Entmenschlichung, das ist es, worum es hier geht. Erschrocken beobachtet man, wie moralische Grundprinzipien ausgehöhlt werden. Bis diese Leute keine Menschen mehr sind, sondern nur noch Flüchtlinge, Migranten, letztlich Zahlen. Das sind beileibe nicht nur Begrifflichkeiten. Damit verbunden ist auch ein schleichender Prozess in den Köpfen, der am Ende dazu führt, dass Gewalt gegen diese Flüchtlinge eben nicht mehr als Gewalt gegen Menschen empfunden wird.
Ein probates Mittel ist es da, mit einem zielsicheren Gespür für die niederen Instinkte erstmal drastische Provokationen und Tabubrüche in den Raum zu stellen, die man dann später, wenn der Druck vielleicht doch mal zu groß wird, eventuell relativiert, manchmal zurückzieht, wenn man nicht einfach der Gegenseite unterstellt, die Aussage bewusst falsch verstanden zu haben. Trump hat es vorgemacht. Der neue italienische Innenminister Matteo Salvini von der rechtsextremen Lega-Partei spielt auch auf dieser Klaviatur. Etwa, als er eine "Zählung" der in Italien lebenden Sinti und Roma ankündigte. Wörtlich sagte er: "Früher hätte man das einen Zensus genannt, aber das darf man ja nicht mehr sagen". Das Wort "Zensus" ist ein düsteres Echo aus der Zeit des Faschismus. In den Raum geschmissen hat Salvini es indirekt trotzdem. Inzwischen nahm er Abstand von der Idee. Doch, wer hat das schon mitbekommen? Das Wort "Zensus" ist hängengeblieben. Und damit ein neuer Tabubruch, der die Grenze, die Rote Linie, wieder ein bisschen mehr verschoben hat.
Doch muss man dafür nicht nach Italien gehen. Der N-VA-Asylstaatssekretär Theo Francken sagte beim letzten EU-Ministerrat in die Mikrophone europäischer Senderanstalten, dass man versuchen müsse, Artikel 3 der Europäischen Menschrechtscharta zu "umschiffen". Dieser Artikel besagt, dass man Migranten nicht in Länder zurückschicken darf, wenn sie dort riskieren, unmenschlich behandelt, gefoltert oder getötet zu werden. "Umschiffen" sollte man dieses Prinzip also für Theo Francken, der bei der Gelegenheit dann auch für Pushbacks plädierte. "Pushback", damit ist unter anderem auch gemeint, was die Italiener schon praktiziert haben: Man schließt - im vorliegenden Fall - die Häfen, schickt die Menschen also zurück aufs Meer. Was das mitunter heißen kann, das kann sich jeder zusammenreimen.
"Sind ja nur Flüchtlinge", ist es das, was die Verfechter dieser Pushbacks denken? Entmenschlichung...
Dem deutschen Innenminister Horst Seehofer scheint Ähnliches vorzuschweben. Auch er will die Grenzen schließen. Seine Pushbacks würden zwar erstmal in Richtung der Nachbarländer erfolgen. Die daraus folgende Kettenreaktion hätte aber dasselbe Resultat; erst Österreich, dann Italien und dann das Mittelmeer bzw. Nordafrika.
Mit dem deutschen Asylstreit bekommt das Ganze aber dann noch einmal eine zusätzliche politische Dimension. Grob gerafft: Die Pushbacks à la Seehofer funktionieren nur, wenn Grenzen wieder zu Grenzen werden. Der Schengenraum wäre damit Geschichte. Und damit auch die EU in ihrer jetzigen Form.
Die Tatsache, dass jetzt ausgerechnet die Koalition um die Bundeskanzlerin Angela Merkel an der Flüchtlingspolitik zu zerbrechen droht, wirkt zudem wie eine späte Genugtuung für alle jene, die Merkel ihre Entscheidung ohnehin immer vorgeworfen hatten. Diese Kritiker sehen sich im Nachhinein in ihrer Überzeugung bestätigt, dass die "Festung Europa" die einzige Antwort sein kann.
Das ist eine gefährliche Illusion. Die Erfahrung lehrt, dass keine Mauer auf Dauer hoch genug ist, um entschlossene und verzweifelte Menschen letztlich aufzuhalten. Es sei denn, man ist auch in letzter Konsequenz bereit, die Menschenrechte außer Kraft zu setzen. Genau das ist die Gefahr, die am Ende des Prozesses der Entmenschlichung lauert.
Das ist kein Plädoyer für eine Politik der offenen Grenzen, sondern einzig nur für die Wahrung der Menschlichkeit. Das Problem ist so komplex, dass es darauf keine einfachen Antworten geben kann. Zu einer guten Lösung gehören wohl Faktoren wie tatsächlich ein effizienter Grenzschutz, innereuropäische Solidarität, die im Augenblick aber leider eine Utopie ist, daneben aber auch Wege zur legalen Einwanderung und auch das resolute Anpacken der Fluchtursachen. Eine - zugegeben - im Moment fast nicht zu lösende Gleichung. Nur, eins darf man nie vergessen: An dem Tag, an dem wir diese Flüchtlinge, diese Migranten, diese Menschen nicht mehr mit Menschlichkeit behandeln, stoßen wir die Tore zur Hölle auf. Wenn Menschenrechte relativ werden, "umschifft" werden können, dann wird das früher oder später ein jeder von zu spüren bekommen.
Roger Pint
Danke Roger Pint!
Solche Kommentare bewegen und machen Mut!
Ins Bild der Entmenschlichung passt auch Salvinis Begriff „Menschenfleisch“, den er im Zusammenhang mit den Bootsflüchtlingen benutzt hat, genauso wie Söders Begriffs-Framing, „Asyltourismus“ oder Dobrindts „Flüchtlingsindustrie“.
Nochmal: die Migrationsfrage ist eine der zentralen gesellschaftlichen und politischen Herausforderungen der nächsten Jahre (Jahrzehnte?) bei der es gilt, Menschlichkeit gegenüber den Flüchtlingen aber auch Antworten auf die Fragen der einheimischen Bevölkerung zu liefern und deren Ängste und Sorgen um Fehlentwicklungen ernst zu nehmen.
Wenn beides nicht gelingt erwarten uns widrige Zeiten.
Guter Kommentar.
Es ist doch wirklich beängstigend, wie sich manche Dinge in der Geschichte zu wiederholen scheinen. Da gibt es komplexe gesellschaftliche Probleme, die von politisch instrumentalisiert werden. Einfache Lösungen werden versprochen. Und von der Bevölkerungsmehrheit geglaubt. Zum Beispiel wurden im Mittelalter Hexen verantwortlich gemacht für Missernten, Viehkrankheiten und anderes Unglück. Und in den 30er Jahren wurden die Juden in Deutschland auch zum Sündenbock gemacht für die Wirtschaftskrise, verlorenen Weltkrieg, etc. Heute sind es eben Flüchtlinge, weil wir in einer Zeit grosser Fluchtbewegungen leben. Diese werden von Rattenfängern wie Theo Francken politisch instrumentalisiert. Und dagegen hilft nur der gesunde Menschenverstand, der einem sagt, dass komplexe Problemlösung Zeit, Geduld, Toleranz und viel Kompromissfähigkeit benötigen. Politik sollte Problemlösungen anbieten und nicht von Problemen ablenken wie es Francken und Konsorten tun. Denn sonst kommt es wieder zu einer Katastrophe wie dem Zweiten Weltkrieg.
Ich bin froh zu lesen, dass #DL und #MSE mit mir bzw. dem Kommentator einer Meinung sind.
Jetzt sollten auch in der Bevölkerung die Konsequenzen gezogen werden um bei den anstehenden Föderalwahlen den Francken mit all seinen flämischen wie auch wallonischen Kollaborateuren abzuwählen.
Eine starke linke Opposition aus der PTB-Go für eine solidarische Föderalgesellschaft für alle hier lebenden Menschen ist meiner Meinung nach unverzichtbar.
Artikel 3 der europäischen Menschenrechtskonvention : Verbot der Folter : "Niemand darf der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender
Behandlung oder Strafe unterworfen werden." Dieser Paragraph wurde vom Europäischen Gerichtshof so interpretiert, dass niemand in ein Land ausgewiesen werden kann in dem er solches riskiert. Streng ausgelegt darf man niemanden nach Belgien oder Deutschland, oder egal welchen EU Staat ausweisen, weil überall "riskiert" man "unmenschlich" behandelt zu werden und so manche Strafe in fernen Ländern und so mancher Zustand dort wird von uns als "unmenschlich" angesehen.
Indem man aber auf diesem Gerichtsurteil herumreitet öffnet man für die ganze Welt die Tür und erzeugt einen Ansaugeffekt dem dann viele folgen, mit der Begleiterscheinung dass viele ihr Leben riskieren und verlieren. Dieses "wenn ihr mal hier seit bekommt niemand euch mehr ausgewiesen" tötet jeden Tag Menschen. "Migranten Willkommen" tötet jeden Tag.
@C. Schumacher
Welch eine absurde Argumentation.
Werter Herr Schumacher.
Ihre Analyse ist richtig. Auch wenn es die europäische Menschrechtsdeklaration nicht gäbe, würden die Menschen kommen. Hoffnungs- und Perspektivlosigkeit sind die Hauptfluchtgründe. Und natürlich auch die realitätsfernen Vorstellungen von Europa. Aus eigener Erfahrung weiß ich, das man sich in Teilen Kameruns Europa vorstellt, als ein Ort, wo jeder mit Anzug und Krawatte im Büro arbeitet. (Ein durch die Medien vermitteltes Bild). Ich habe erfolglos versucht, zu erklären, ich sei Handwerker.
Ich halte nichts von einer Abschottungspolitik. Es wäre besser, eine gewisse Anzahl Arbeitsvisas zu erteilen, um Afrikanern das Arbeiten in Europa zu ermöglichen. Diese würden dann von ihren Erfahrungen berichten und vielen die Augen öffnen. Und vielleicht wäre dann Schluss mit der Vorstellung, Europa sei ein Paradies, wo Milch und Honig fliesst. Zusätzlich bräuchte es einen Marshall-Plan für Afrika, also Konzept für die politische und wirtschaftliche Entwicklung.
Es fehlt so einiges in der Aufzählung der "Entmenschlichung".
Frankreichs Präsident Emmanuel Macron hat die anti-europäische Stimmung in Teilen der EU als neue "Lepra" bezeichnet. Keine Entmenschlichung?
Auch unter Obama wurden illegale Einwanderer verhaftet, auch mit Kinder und es gab drei Millionen Abschiebungen unter Obama. Keine Entmenschlichung?
Herr Scholzen !
Sie haben Recht, Migration wird es immer geben und ich gehe sogar noch weiter, muss es für Europa geben.
Aber ich halte es mit Europa wie mit meinem Haus. In mein Haus kommt der den ich einlade oder bewusst hineinlasse. Derjenige der sich unbefugt hineindrängt oder heimlich durchs Kellerfenster kriecht wird wieder hinausbefördert.
Asyl und Schutz für Kriegsflüchtlinge kann es auch ausserhalb Europas geben. Länder in den wir z.B. unseren Urlaub verbringen können nicht als unsicher eingestuft werden.
Derjenige der einsieht dass er nur auf legalem Weg nach Europa kommt wird sein Leben nicht riskieren um ... geradewegs wieder zuhause zu landen.
Warum liest man nichts von den tausenden "Kinder-Flüchtlinge", die ohne Eltern in die USA flüchten - oder geschickt werden. Wer hat diese Kinder denn von ihren Eltern getrennt? Oder geht es nicht so sehr um die Kinder, sondern nur gegen unbequeme Politiker....
Herr Radermacher !
Ihre Frage ist berechtigt und die Antwort nicht immer "menschlich". Laut Menschenrechtsorganisationen sind wir verpflichtet die Familien von alleinreisenden "Flüchtlings-Kinder" nachzuholen und Ihnen Aufenthalt zu gewähren. Darum so viel echte und "falsche" alleinreisende Minderjährige.
Es stellt sich auch die Frage wie menschlich wohl die Familie ist einen Minderjährigen auf die weite und gefährliche Reise zu schicken um dann selbst gefahrlos nachreisen zu können.
Es wird mit allen Mitteln an unsere "Menschlichkeit" appeliert, oder wie manche sagen unsere Menschlichkeit wird ausgenutzt.