Man fühlt sich manchmal an das Bild der "Schlafwandler" erinnert, das der Historiker Christopher Clark geprägt hat. Bei ihm waren es die Mächtigen Europas, die 1914 insbesondere wegen diverser Bündnisverflechtungen nachtwandlerisch in den Abgrund stolperten. Und auch jetzt kann man wieder eine ganze Reihe von Staaten und Staatenlenkern beobachten, wie sie auf einem geopolitischen Drahtseil balancieren, scheinbar sicher, jeder im Vertrauen auf seine eigene Stärke und Überlegenheit. Dabei gilt: Keiner ist ohne Schuld - und jeder lügt.
Aber, um im Bild zu bleiben: Geradezu der personifizierte Schlafwandler ist da erstmal wieder der Mann, der seinen Morgenmantel manchmal mit einem Superheldencape zu verwechseln scheint. US-Präsident Donald Trump ballerte in aller Herrgottsfrühe wieder einen seiner berühmt berüchtigten morgendlichen Tweets ab, schwadronierte wie ein kleiner Junge über seine "schönen, neuen, schlauen" Raketen, vor denen die Russen aufpassen sollten. Ein US-Präsident, der sich direkt an die Russen wendet und der dabei verbal mit Cruise Missiles herumfuchtelt? Wer dachte, der Tiefpunkt sei längst erreicht, der sah sich mal wieder getäuscht.
Mit diesem neuen Tiefpunkt reagierte der Mann aber nur auf einen anderen, neuen Tiefpunkt. Wieder wurde in Syrien Giftgas eingesetzt. Zumindest gibt es starke Indizien dafür. Syrer und vor allem Russen verstolpern sich derweil in ihren Dementis, etwa wenn Moskau erst erklärt, einen Giftgaseinsatz habe es nicht gegeben, um dann die USA davor zu warnen, dass ein möglicher amerikanischer Raketenangriff doch mögliche Beweise für eine Giftgasattacke zerstören könnte. Später hieß es, Großbritannien habe den Vorfall mit inszeniert, einen Vorfall, den es vorher gar nicht gegeben hatte. Davon abgesehen, dass das mal wieder die üblichen, zynischen Haarspaltereien sind, für die Moskau längst berühmt ist.
Der Vorfall von Duma, um den es hier geht, ist einer von vielen - sehr vielen. Menschenrechtsorganisationen haben in den letzten fünf Jahren mindestens 50 Einsätze von chemischen Kampfstoffen gezählt. Zugegeben: Oft fehlt der endgültige Beweis. Angesichts der Lage vor Ort ist der schwierig zu erbringen. Und zugegeben: Mindestens eine dieser Attacken konnte auch der Terrororganisation IS zugeschrieben werden.
Aber: Mehrmals haben Experten der Vereinten Nationen und der Organisation für das Verbot von Chemiewaffen der Assad-Regierung den Einsatz von Giftgas nachweisen können, darunter auch das schreckliche Nervengift Sarin. Mehrmals! Das heißt: Niemand kann auch nur ansatzweise so tun, als habe die syrische Regierung diese Rote Linie noch nie überschritten.
Das gilt zu aller erst für die, die dieses Regime nach wie vor uneingeschränkt und mit aller Macht unterstützen, insbesondere die Russen. Sie halten eine Diktatur in Amt und Würden, die die Bürger ihres Landes nicht nur mit Giftgas tötet und terrorisiert, sondern systematisch belagert, bombardiert, aushungert, zermürbt.
Doch genau da sind wir auch wieder bei der Roten Linie. Die sei mit dem jüngsten Giftgasangriff überschritten, hieß es insbesondere von Amerikanern und Franzosen. Aha? Erst jetzt? Vorher also nicht, als das Assad-Regime besagte Gräueltaten verübte. Darüber hinaus: Mindestens 250.000 Tote hat der syrische Bürgerkrieg gefordert. Die diesbezüglichen Schätzungen sind aber sehr ungenau. Es können auch sehr viel mehr sein. Und auch das war also keine "Rote Linie"?
Zugegeben: Giftgas, das ist durchaus nochmal eine neue Stufe des Schreckens. Die ebenso furchtbare wie feige Waffe ist nicht umsonst allgemein geächtet. Und, ja, deren Einsatz gehört geahndet, bestraft! Entsprechend nachvollziehbar ist auch eine Argumentation nach dem Motto: "Jetzt ist das Maß voll, jetzt müssen wir wirklich handeln".
Nur: Sind Raketen da wirklich eine angemessene Bestrafung? Und seien sie auch noch so "schön, neu und schlau". Man mag einwenden, dass jemand wie Assad keine andere Sprache versteht. Aber dennoch: Raketen wofür? Um Militäranlagen zu bombardieren, die die Syrer längst geräumt haben, nicht nur, weil Trump sie netterweise vorgewarnt hat, sondern auch, weil die Russen in der Regel von den Amerikanern über die Ziele im Vorhinein informiert werden?
So naiv es klingen mag, und so unendlich unrealistisch es im Moment erwiesenermaßen ist, man wünscht sich ein Kriegsverbrechertribunal nach dem Vorbild des Haager Gerichtshofes.
Was aber jetzt vor allem erstmal fehlt, ist eine Perspektive. Raketen alleine reichen nicht mal ansatzweise. Der Irak und spätestens Libyen haben gezeigt, dass man den Teufel auch mit dem Beelzebub austreiben kann, eben dann, wenn man sich darauf beschränkt, einen blutrünstigen Diktator aus seinem Palast zu bomben, ohne zu wissen, was denn danach kommen soll.
Doch da sind wir eben wieder bei den Schlafwandlern... Jeder, wirklich jeder Protagonist in diesem komplexen Konflikt hat seine eigene Agenda. Das große Ganze ist ihnen egal. Das gilt zunächst für die Großmächte: Für Trump, der den heißen Atem des Sonderermittlers Mueller im Nacken fühlt, kommt die außenpolitische Ablenkung wie gerufen. Das spielt jedenfalls mit. Genau das gilt auch für Wladimir Putin, der angesichts mieser Wirtschafts- und Börsendaten auch lieber den Blick auf Syrien lenkt. Im Übrigen eignet sich auch das syrische Chaos für die russische Strategie, möglichst viel Zweifel und Zwietracht zu säen, um selbst größer zu erscheinen, als man ist.
Eine eigene Agenda verfolgen aber vor allem die Regionalmächte, allen voran die Türkei und der Iran, die ebenfalls ihre geopolitischen Eisen im syrischen Feuer schmieden. Nicht zu vergessen Israel, das sich durchaus von dem explosiven Gemisch bedroht fühlen muss, dass da im Nachbarland zusammengerührt wird.
Wer zu sehr auf die USA und Russland starrt, der vergisst, dass es diese Regionalmächte sind, die den syrischen Konflikt wirklich so gefährlich machen, die am Ende den ganzen Nahen Osten in Brand stecken können. Und die dann die übrigen Schlafwandler mit in den Abgrund ziehen...
Roger Pint
... und wie weiter?
Die Welt ist Zeuge eines unbeschreiblich zynischen Propagandakrieges, dessen Protagonisten kaum noch zu identifizieren sind.
Alle auch noch so klugen und differenzierten Kommentare (wie der von Roger Pint) ändern an dem sich immer mehr verfestigenden Gefühl nichts, dass man nicht mehr weiß, wem man noch glauben kann.
Neben den hundertausenden Toten, die dieser Konflikt bisher gefordert hat, neben den zerstörten Städten und der Perspektivlosigkeit die das Land fesselt, gibt es 2 weitere Opfer zu beklagen: die Wahrheit und das Vertrauen in jedwede direkt oder indirekt in Syrien involvierten Kräfte.
Dies ist bei kriegerischen Auseinandersetzungen nicht neu, aber wurde bisher kaum so deutlich, wie in Syrien.