Es ist überhaupt keine Frage, dass die Sorge Zehntausender Menschen in der Region über die Sicherheit der belgischen Atomkraftwerke Tihange und Doel absolut verständlich ist. Obwohl man einräumen muss: Wirklich Genaues, Gesichertes weiß niemand.
Die entdeckten Tausenden Haarrisse in den Reaktoren Tihange 2 und Doel 3 sind ein erhebliches Risiko, sagen Experten. Vor allem dann, wenn die Risse auf Materialermüdung zurückzuführen sind. Andere Fachleute sprechen statt von Rissen von Wasserstoffeinschlüssen, entstanden bereits bei der Herstellung des Stahlmantels. Das wäre weit weniger dramatisch.
Dann die vielen Pannen, angeblich stets im nichtnuklearen Bereich. Ständig müssen Reaktoren heruntergefahren werden, gibt es Stilllegungen oft über Monate hinweg. Die belgische Atomaufsichtsbehörde FANK erklärt dazu, die Sicherheit der Blöcke sei dadurch nicht in Frage gestellt. Im übrigen informiere sie die Öffentlichkeit ständig.
Dann die Studie des niederländischen Untersuchungsrats für Sicherheit, die Belgien, Deutschland und den Niederlanden eine schlechte Zusammenarbeit im nuklearen Katastrophenfall bescheinigt. Da sind sich ausnahmsweise alle einig: Ja, hier muss eine Menge verbessert werden.
Jetzt die Recherche von WDR und Monitor zur Häufung von "Precursor"-Vorfällen in Tihange 1. Wiederum Experten, durchaus namhafte wie der ehemalige Chef der deutschen Atomaufsicht, Dieter Majer, oder Manfred Mertins, Gutachter und früherer Mitarbeiter der Gesellschaft für Reaktorsicherheit GRS, äußern ihr Unbehagen. Sie sehen "sicherheitstechnische Schwachstellen". Und: Tihange 1 sei ähnlich riskant wie Tihange 2 und Doel 3. Für die belgische Atomaufsichtsbehörde FANK hingegen sind "Precursor"-Analysen nicht geeignet, Rückschlüsse auf den Sicherheitszustand einzelner Reaktoren zu ziehen. Man könne garantieren, dass der Betreiber Engie-Electrabel und die FANK die Sicherheit dieses Reaktors gewährleisteten. Dem wiederum widersprechen andere Experten. Einer sagt: Hätte man den "Precursor"-Vorfall von Tschernobyl ernstgenommen, wäre es dort nicht zum Super-Gau gekommen.
Wem kann man glauben? Ja, es ist - noch - eine Glaubensfrage. Denn niemand hat bislang wissenschaftlich gesicherte Erkenntnisse vorlegen können. Zumal die Beherrschbarkeit von Kernkraft ein Buch mit sieben Siegeln ist. Und die Mehrzahl der verantwortlichen Politiker - hüben wie drüben - wirft Nebelkerzen. Hin und wieder zwar ein markiger Ausspruch, aber zumeist wird mit dem Finger auf andere gezeigt.
Die belgische Regierung verharrt immer noch in unheilvoller Symbiose mit der Atomlobby, die deutsche - geschäftsführende - Regierung erlaubt nach wie vor die Lieferung deutscher Brennelemente an die von ihr als "marode" bezeichneten belgischen Kernkraftwerke und belastet die Bevölkerung mit Braunkohlekraftwerken. Die zuständigen Minister Jan Jambon und Barbara Hendricks, die sich zum Thema eigentlich regelmäßig treffen wollten, sind bislang einmal zusammengekommen. Und die belgische Atomaufsicht mauert, legt keine Fakten auf den Tisch, setzt auf Beruhigung.
Das ist nicht nur verdammt verdächtig, es ist enttäuschend und deprimierend. So schlimm es uns erscheinen mag: Das alles darf nicht dazu führen, den Menschen medial zu suggerieren, dass wir am Abgrund einer atomaren Katastrophe stehen. Wenn das so wäre, hätten alle, die Verantwortung tragen in Sachen Kernenergie, völlig den Verstand verloren. Rechnen wir nicht mit dem "worst case". Verlangen wir ehrliche Aufklärung - mit allem Nachdruck!
Rudi Schroeder
„Verlangen wir ehrliche Aufklärung - mit allem Nachdruck!“
Schön und gut, aber wer bitte soll diese Aufklärung liefern, angesichts der politischen-, ökonomischen- und Partikularinteressen, die mit der Betreibung der belgischen Kernkraftwerke verbunden sind?
Der Atomlobby, den Betreibern, der FANK und der Politik kann man angesichts dieser Interessen nicht „glauben“, außenstehenden Experten will man nicht „glauben“.
Und wie weiter ?