Im Grunde ist es ein Unding, was da gerade mit dem Energiepakt passiert. Da arbeiten vier Minister und ihre Mitarbeiter ein knappes Jahr lang an einem Entwurf, und gerade als er fertig ist, fällt einem der Auftraggeber ein, dass er mit dem Ziel des Papiers nicht einverstanden ist. Das hätte sich die N-VA auch schon vorher überlegen können. Hat sie sicher auch. Nur gesagt hat sie es nicht.
Taktik darf man dahinter vermuten. Allerdings gut getarnt. Denn auch die N-VA hat sich in dem Koalitionsvertrag ja darauf eingelassen, den Atomausstieg bis 2025 zu verwirklichen. Schließlich ist das ja auch ein Gesetz. Und Gesetze gilt es zu respektieren. Gerade von einer Regierung, die so etwas von ihren Bürgern fordert, sollte man da sicher Vorbildfunktion erwarten.
Doch Gesetze und Versprechen scheinen der N-VA in diesem Fall gleichgültig zu sein. Denn sie weiß: Bei vielen Wählern der N-VA ist der Atomausstieg eine unpopuläre Sache. Gerade die flämische Unternehmenswelt hatte sich in der Vergangenheit lautstark für die Verlängerung der Laufzeit der belgischen Atomkraftwerke eingesetzt. Die Unternehmen fürchten die hohen Kosten, die der Umstieg auf alternative Energiequellen unweigerlich mit sich bringt. Die föderale Energieministerin Marie-Christine Marghem sagte das noch einmal deutlich in der RTBF: Alle Umwälzungen kosten Geld. Also auch die, die jetzt bevorsteht.
Und zu der sich Belgien nun mal per Gesetz entschlossen hat. Angegangen ist die Politik die Umwälzung bislang nur halbherzig. Und genau das ist jetzt auch der Vorwurf, den sich Michel als Regierungschef gefallen lassen muss: Er hätte den Energiepakt sofort zu Beginn seiner Amtszeit in Auftrag geben sollen. Kurz nach den Wahlen oder in der Mitte der Legislatur hätte die N-VA ihr Spielchen mit der Atomausstiegsdiskussion weniger leicht begonnen als jetzt. Zu viel hätte für die N-VA auf dem Spiel gestanden. Entweder hätte sie sich auf den Weg der ungeliebten Energiewende einlassen müssen - und damit einen Großteil ihrer Wählerschaft enttäuscht. Oder das Zerbrechen der Koalition riskiert - woran die N-VA am Beginn der Legislatur kein Interesse haben konnte. Denn sie war ja auch in die Koalition mit eingetreten, um Politik aktiv mitgestalten zu können.
Jetzt aber hat sie nichts mehr zu verlieren. Die Legislatur neigt sich dem Ende entgegen. Viel konnte die N-VA politisch schon gestalten. Jetzt gilt es, das eigene Profil zu stärken in Hinsicht auf die kommenden Wahlen.
Und das heißt auch, zur Not in Krisen standhaft zu bleiben. Sollte die Koalition zerbrechen, wäre das kein Problem für die N-VA. In der Gunst ihrer Wähler würde die Partei dann sogar vielleicht noch gewinnen. Die N-VA gegen den Rest - so sieht sich die Partei ja selbst gerne. Und wer sich dabei noch - wie die N-VA im Energiepakt-Streit - zum Anwalt des Geldbeutels der Bürger macht, darf doppelt darauf hoffen, für seine Standhaftigkeit mit einem Kreuzchen belohnt zu werden.
Deshalb ist kaum davon auszugehen, dass sich die N-VA in ihrer Ablehnung des Energiepakts noch durch die Zahlen abbringen lässt, die jetzt gesammelt werden sollen. Denn letztlich bleibt es eine Willensfrage, ob man den Atomausstieg 2025 schaffen will, oder nicht. Wer ihn schaffen will, setzt alles daran, das Ziel zu erreichen. Wer es nicht schaffen will, der sammelt Zahlen und Meinungen, debattiert und laviert, und schon ist es zu spät.
Schon jetzt ist es eigentlich fast zu spät. Das hatte eine Studie des Hochspannungsnetzbetreibers Elia ja Anfang November dargelegt. Spät, sagte da Elia, aber noch nicht zu spät sei es. Wenn man jetzt rasch beginnen würde mit Maßnahmen, um den Ausstieg einzuleiten, könnte es noch klappen.
Das politische Spiel der N-VA ist bei diesem Ratschlag genau das, was keiner gebrauchen kann. Jetzt heißt es anpacken, Pläne absegnen und sich an die Umsetzung machen.
Es sei denn, man will den Ausstieg nicht wirklich. Bei der N-VA scheint das der Fall. Durch ihre Stärke und den Zeitpunkt, an dem der Energiepakt fertig wurde, hat sie die Macht, einem ganzen Land ihren Willen aufzudrücken.
Kay Wagner