13,1 Millionen Menschen dürfen am Sonntag in Nordrhein-Westfalen über einen neuen Landtag abstimmen - mehr als ein Fünftel aller Wahlberechtigten in Deutschland. NRW ist das größte der 16 deutschen Bundesländer. Es ist das Stammland der Sozialdemokratie. Seit 50 Jahren ist die SPD hier stärkste politische Kraft und führte bis auf eine Ausnahme immer die Landesregierung. Nur zwischen 2005 und 2010 regierte in NRW Schwarz-Gelb mit einem CDU-Ministerpräsidenten: Jürgen Rüttgers.
Aktuelle Umfragen zeigen, dass die SPD Gefahr läuft, die Spitzenposition an die CDU zu verlieren. Alles deutet auf ein Kopf-an-Kopf-Rennen hin. Amtsinhaberin Hannelore Kraft gegen den Herausforderer Armin Laschet aus Aachen. Im direkten personellen Vergleich liegt Kraft noch relativ deutlich vorne, bei der Gegenüberstellung der Parteien fällt jedoch auf, dass die SPD ihren satten Vorsprung längst eingebüßt hat - die Union begegnet ihr auf Augenhöhe.
Erstmals in der Landesgeschichte könnte es zu einer großen Koalition kommen. Denn weder das bisherige Bündnis Rot-Grün noch Schwarz-Gelb sind, laut Umfragen, mehrheitsfähig. Kraft hat nach langem Zögern Rot-Rot eine Absage erteilt, "Jamaika" - also Schwarz-Gelb-Grün - dürfte am Nein der schwächelnden Grünen scheitern.
Die Bürger in NRW sind mehrheitlich - auch das geht aus repräsentativen Befragungen hervor - mit der Politik der rot-grünen Regierung unzufrieden. Vor allem hält man ihr verfehlte Schulpolitik, Versagen bei der Inneren Sicherheit und in verkehrspolitischen Fragen vor. Aber auch im weiten Bereich der sozialen Themen gilt die nordrhein-westfälische SPD längst nicht mehr als Garant für Ausgleich und Gerechtigkeit.
Und was tut die SPD im Kampf gegen die belgischen Problemreaktoren Tihange 2 und Doel 3? Vielen genügen die Sprechblasen dazu von Kraft und Co. schon lange nicht mehr. Und auch die Grünen haben sich bei ihrem einst ureigenen "Kernthema" nicht mit Ruhm bekleckert. Die nordrhein-westfälische CDU ist in diesen Bereichen mit klareren An- und Aussagen unterwegs, auch wenn Armin Laschet erst in den letzten Tagen rhetorisch und inhaltlich zulegte.
Besonders scheint aber die FDP im Aufwind. Unter ihrer Lichtgestalt Christian Lindner gewinnt sie an Profil - mit konkreten Vorstellungen und einer teilweisen Abkehr vom Image der Partei der Neoliberalen und Besserverdienenden.
Und die Populisten von der AfD? Ihr sagen die Meinungsforscher zwar einen Einzug in den Landtag voraus - mit gut sechs Prozent. Aber der rechte Rand verliert im Zuge der sich abmildernden Flüchtlingsproblematik an Bedeutung. Da scheint sich in NRW der Trend fortzusetzen, der bereits in Österreich, den Niederlanden und zuletzt in Frankreich offenkundig wurde: Wenn sich die Schicksalsfrage stellt, ist Europa immer noch die bessere Option als die kleingeistige Nationalstaaterei.
NRW ist an diesem Sonntag im Fokus, sogar außerhalb von Europa ist die Landtagswahl von großem Interesse. So werden Medienvertreter aus Russland, China, Japan und Südafrika ihre Landsleute live aus dem Düsseldorfer Landtag auf dem Laufenden halten. Sie dürften vor allem analysieren, was das NRW-Wahlergebnis für die Bundestagswahlen im Frühherbst bedeuten könnte. Letztlich geht es um die Frage: Angela Merkel oder Martin Schulz? Die Mutter der Nation gegen den Sozialwohltäter. Der Trend scheint für die omnipräsente Bundeskanzlerin zu sprechen, der Schulz-Effekt hat sich schnell verbraucht.
Welche Rückschlüsse lässt das im Hinblick auf die NRW-Wahl zu? Frau Merkel spielt das Ganze erwartungsgemäß herunter: NRW sei kein reiner Testlauf für den Bund, am Sonntag falle die Entscheidung um die Lebenswirklichkeit im bevölkerungsreichsten Bundesland. Martin Schulz' Hoffnung ruht vorerst ganz auf Hannelore Kraft. Kann sie das Ruder herumreißen - für ihn und die SPD?
Wie auch immer dieser Wahlsonntag ausgeht: NRW wird's locker überleben, Deutschland und Europa werden keinen weiteren Schaden nehmen. Weil - trotz aller berechtigten Kritik auch am deutschen Establishment - die Demokraten gewinnen werden, allen Populisten und Verschwörungstheoretikern zum Trotz...
Rudi Schroeder - Bild: Achim Nelles/BRF