Nicht nur im Filmklassiker "Casablanca" geht es um Visa, in jedem Exilroman wird in Botschaften auf Visa gehofft. Jetzt plötzlich ist die Verbindung von Botschaft und Visum in Belgien Gegenstand hoher Politik.
Und gleichzeitig sehr niederer Politik. Viele Akteure machen Politik auf dem Rücken besagter Familie in Aleppo. Und bisher - und zu hoffen ist, dass es so bleibt - haben die Akteure das Glück, dass es keine Bilder blutüberströmter Kinder gibt.
Dabei wäre alles zu vermeiden gewesen, hätte Staatssekretär Francken die Visa erteilt, ohne Aufhebens darüber zu machen, so wie in hunderten Fällen zuvor.
Francken wird sagen: Alles wäre zu vermeiden gewesen, hätte die Richterin nicht befohlen, die Visa zu erteilen. Die Richterin denkt sicherlich: Alles wäre zu vermeiden gewesen, wäre die Ablehnung sorgfältig motiviert gewesen, und hätte mich das Fremdenamt nicht dadurch provoziert.
Was jetzt entstanden ist, ist der Eindruck, Francken sei auf die Gelegenheit gesprungen, mit dem Drohgespenst von "Millionen Flüchtlingen vor belgischen Konsulaten" sein Profil als strenger Asylpolitiker zu schärfen.
Für seine Gegenspieler, die Anwälte der Familie, ist das öffentliche Interesse ebenfalls willkommen, können sie doch damit für das Ziel werben, die Menschenrechtskonvention nicht auf Europa zu beschränken, sondern auf die Botschaften hin auszuweiten. Ganz so abwegig ist das nicht, auch rechtlich nicht, ist das Botschaftsgelände doch so etwas wie nationales Hoheitsgebiet, siehe Julian Assange in der ecuadorianischen Botschaft in London.
Im Europaparlament gab es übrigens schon Überlegungen in diese Richtung. Es ist also hochinteressant, und hochbrisant, womit sich der Europäische Gerichtshof beschäftigen wird. Wurde zunächst von mehreren Monaten ausgegangen, ließ jetzt der Europäische Gerichtshof überraschend verlauten, bereits am 30. Januar zu einer Dringlichkeitssitzung zusammen zu treten. Was ein weiteres Zeichen für die Brisanz ist.
Etwas anderes ist der Vorstoß der N-VA. Zunächst einmal sehr unhöflich, der Richterin "Weltfremdheit" vorzuwerfen, aber ungeschickt deshalb, weil dieser Frontalangriff von der Pertinenz des anderen Aspekts ablenkt. Dieser andere Aspekt ist der Vorwurf, die richterliche Macht schwinge sich an die Stelle des Primats der Politik, auch im deutschen Fachjargon als "gouvernement des juges" ein Thema. Ein Thema, das es verdient, ernst genommen zu werden.
Schon sehr früh ein Reizwort, das zur Gründung der modernen Staaten führte, mit Belgien als Vorläufer. Es galt, das frühere "ancien régime" mit feudalen Herren und omnipotenten Richtern wegzufegen. Ältere Semester haben noch einen der Nestoren der Löwener Rechtsfakultät, Cambier, in den Ohren, der mit Inbrunst erklärte, dass Belgien bewusst kein Verfassungsgericht habe und auch keines brauche.
Und der Schiedshof, der dann im Zuge der ersten Staatsreform kam, wachte einzig und allein über die Zuständigkeiten der verschiedenen neuen Parlamente und Regierungen. Es war der Schiedshof, der selbst einen Text so auslegte, dass er plötzlich glaubte, über die Gleichheit der Belgier wachen zu müssen.
Der Drang der Gerichte zu mehr Macht hin ging einher mit einem willfähigen Gesetzgeber, der nur zu gerne Entscheidungen an die Gerichte abgibt. Das mag man gut finden oder nicht, die Frage ist jedenfalls ebenso spannend wie heikel und intellektuell herausfordernd.
Doch all das nützt der Familie in Aleppo nichts. Vielleicht gibt es der Politik, wenn sie sich traut, die Chance, sich der strukturellen Fehler der Schengen-Konstruktion bewusst zu werden, des "entweder drin sein, oder draußen".
Was war es einfach vor Schengen, am Beispiel der offenen spanischen Grenze: Im Sommer kamen die Pflücker aus Marokko, im Winter gingen sie nach getaner Arbeit, den Lohn in der Tasche, dahin zurück. Und kamen im Sommer wieder, und überwinterten zurück in der Heimat. Einfach so. Aber das war vor dem Zerfall Afghanistans, des Irak und Syriens, mit unserem Zutun. Jetzt ist guter Rat teuer.
Frederik Schunck