Erdogan, Erdogan und immer wieder Erdogan. Der türkische Präsident ist derzeit nicht mehr aus den Medien wegzudenken. Ein westlicher Zeitungsstand unterscheidet sich momentan wohl kaum von einem Bahnhofskiosk in Istanbul. Vom Internet erst gar nicht zu reden. Jede weitere von Erdogans mehr als zweifelhaften Maßnahmen, das Land unter seine Kontrolle zu bekommen, sorgt derzeit für Eilmeldungen, Schlagzeilen und Kommentare. Ja, das Sommerloch vom Bosporus hat den Westen fest im Griff. Vielleicht wäre hier auch mal etwas weniger mediales Hyperventilieren angesagt. Aber die Figur Erdogans garantiert seit Monaten immer wieder viele Klicks. Und das ist nunmal die derzeitige Währung in der Medienwirtschaft. Doch der Ton hat sich geändert. Innerhalb weniger Wochen ist der türkische Präsident vom dauerbeleidigten Ziegenliebhaber zum größten Sultan aller Zeiten mutiert. Zum "Neuen Hitler" hat er es mittllerweile geschafft. Quasi der mediale Ritterschlag.
Doch schauen wir auf die Realität und die Fakten. Ja, Parallelen zum sogenannten Dritten Reich gibt es. Und wenn es so weitergeht, dann haben wir tatsächlich das nächste große Problem. Und zwar nicht mehr vor der Haustür, sondern schon im Hausflur. Die Ereignisse in der Türkei sind in der Tat angsteinflößend. Eine De-facto- Diktatur ist es noch nicht. Aber der Weg dorthin ist schonmal vorsorglich freigeräumt. Zehntausende Festnahmen, Richter und Staatsanwälte des Amtes enthoben, Beamte, Lehrer und Universitätsrektoren gefeuert. Denunziantentum ist erwünscht, die Wiedereinführung der Todesstrafe wird zumindest diskutiert, die Europäische Menschenrechtskonvention wird ausgesetzt, und über allem schwebt der verhängte Ausnahmezustand, mit dem sich quasi alles rechtfertigen lässt...
Ja, Erdogan hat innerhalb einer Woche mehr rote Linien überschritten als jedes andere Natomitglied in der bisherigen Geschichte. Da darf der Westen sich nicht achselzuckend in den Sommerurlaub verabschieden. Und: Die Reaktionen sind ja auch da. Politiker aller Farben und Trachten zögern nicht, ihre Besorgnis über die Entwicklung in der Türkei kundzutun. Aber zu mehr als einem erhobenen Zeigefinger reicht es derzeit einfach nicht. Das Arsenal an Drohmitteln ist doch sehr begrenzt. Dem Flüchtlingsdeal sei Dank. Und die EU-Mitgliedschaft scheint auch nicht gerade Erdogans Herzensangelegenheit zu sein. Die der EU übrigens auch nicht. Mit dem Abbruch der EU-Beitrittsverhandlungen zu drohen, ist da nicht mehr als Symbolpolitik und für Erdogan keine wirkliche Bestrafung. Dabei hätte aus der Türkei durchaus mal ein passabler Partner für die EU werden können. Im Gegensatz zu den angrenzenden arabischen Ländern schien es in den letzten Jahrzehnten an Stabilität, Demokratie und Freiheit gewonnen zu haben. Hinzu kam unter Erdogan ein wirtschaftlicher Aufschwung. Und der gilt ja allgemein als begünstigend für eine freie Gesellschaft.
Jetzt geht's aber erstmal in die andere Richtung. Und die EU kann derzeit nur dabei zusehen. Hilflosigkeit, das ist ihre derzeit herausragendste Schwäche. Nicht nur gegenüber der Türkei. An allen Ecken brennt es. Ob Nationalismus, Flüchtlingskrise, Brexit, Terrorgefahr, Arbeitslosigkeit, Staatsschulden, Eurokrise, Steuerkriminalität, und und und...Nirgendwo sind praktikable Lösungen in Sicht. Die EU wirkt angeschlagen und uneinig, wie seit langem nicht mehr. Ihre Glaubwürdigkeit lebt von ihrer Fähigkeit, Frieden, Wohlstand und Demokratie für alle Bürger zu garantieren. Es wird langsam aber sicher allerhöchste Zeit, dass sie diese Handlungsfähigkeit zurückgewinnt.
Volker Krings