Lucia di Lammermoor: Diese Oper ist eine der stimmlich anspruchsvollsten Partituren des Belcanto-Repertoires und inhaltlich ein echtes Schauermärchen. In kaum einer anderen Oper wird der Wahnsinn so explizit auf die Bühne gebracht. Die Handlung greift auf einen Roman von Walter Scott zurück und spielt im Schottland des frühen 17. Jahrhunderts.
Enrico möchte seine Schwester Lucia mit dem reichen Lord Arturo verheiraten, um das eigene Geschlecht vor dem Ruin zu bewahren. Aber Lucia liebt Edgardo, den ärgsten Feind des Bruders, und schwört ihm ewige Treue. Enrico schafft es, Edgardo bei Lucia der Untreue zu bezichtigen, daraufhin heiratet Lucia Arturo. Edgardo platzt in die Hochzeitszeremonie, verflucht Lucia, da er sich von ihr verraten fühlt. Lucia verfällt daraufhin dem Wahnsinn, tötet zunächst in geistiger Umnachtung ihren frisch angetrauten Ehemann, dann sich selbst. Als Edgardo dies erfährt, bringt auch er sich um.
Soweit der Inhalt der Oper. Das gilt es nun mit Leben zu erfüllen. Und was die Sänger betrifft, kann die Lütticher Oper mit einem grandiosen Ensemble aufwarten. Da wäre zunächst Annick Massis zu erwähnen. Sie singt auf atemberaubend leichte und doch engagierte Art die Titelpartie. Selbst die höchsten Töne formt sie klangschön, gibt der Partie aber auch die notwendige Dramatik. Immerhin gilt es den Wahnsinn darzustellen. Und Donizetti sieht für diese Schlüsselszene eine Begleitung auf der Glasharmonika vor. Dieses Instrument ist alles andere als geläufig, und somit verzichtet manches Opernhaus auf den Einsatz. Nicht so in Lüttich. Dank der guten Verbindungen von Dirigent Jesus Lopez Cobos ist im Lütticher Orchestergraben tatsächlich eine Glasharmonika zu hören und zu sehen.
Neben der überragenden Annick Masis werden aber auch die männlichen Protagonisten ihren Rollen mehr als gerecht. Ivan Thirion singt mit vollem Bariton hervorragend Lucias hinterhältigen Bruder Enrico, der Tenor Celso Albelo ist bei seinem Lüttich-Debüt ein wunderbarer Edgardo, aber vor allem glänzt Roberto Tagliavini als Lucias Vertrauter Raimondo. Der junge Bass kann auf eine schon beeindruckende Karriere blicken, die ihn von der Mailänder Scala über die Pariser Bastille-Oper nach Berlin oder zu den Salzburger Festspielen führte. Das muss man Lüttichs Operndirektor Stefano Mazzonis schon lassen, er versteht es immer wieder, grandiose Stimmen an sein Haus zu verpflichten. Das gilt auch für Dirigenten. In diesem Fall steht mit Jesus Lopez Cobos ein Mann am Dirigentenpult, der vor über 40 Jahren seine erste "Lucia di Lammermoor" leitete mit Solisten wie Beverly Sills und Luciano Pavarotti.
Über die Inszenierung, für die der Hausherr selber verantwortlich zeichnet, braucht man nicht viele Worte zu verlieren. Der Stil von Mazzonis ist hinlänglich bekannt. Wie immer möchte er ausschließlich die Geschichte erzählen, und greift gerne auf die großen Gesten zurück. An den Kostümen, die übrigens sehr edel wirken, merkt man gleich, dass wir in Schottland sind. Und da trägt Mann eben den Schottenrock. Eine tiefere Deutung eines Werkes ist nicht Mazzonis Sache. Da ist er konsequent und das ist sein gutes Recht. Allerdings darf man sich fragen, ob bei jeder seiner Regiearbeiten irgendwann ein, in diesem Fall sogar zwei Hunde über die Bühne laufen müssen, und das umständliche und zeitraubende Hin- und Herschieben von zwei Türmen und den entsprechenden Turmzimmern trägt nichts zur Inszenierung bei.
Aber Belcanto steht ohnehin im Mittelpunkt dieser Oper. Und da wird man in Lüttich in höchstem Maße verwöhnt. Bis zum 1. Dezember wird "Lucia di Lammermoor" in der Königlichen Oper der Wallonie gegeben.
Hans Reul - Bild: Opéra de Liège