Jeder der Finalabende dieser Woche hielt eine Überraschung bereit. Am Donnerstag war es der atemberaubende Auftritt des Amerikaners William Hagen, der das Publikum begeisterte und zu Standing Ovations führte. Hagen riss das Publikum mit einer fulminanten Interpretation des Violinkonzertes von Peter Tschaikowsky mit. Er gab der Musik Raum, ließ die Themen des ersten Satzes in wunderschönem Ton erklingen und konnte dem umfangreichen Satz eine Gesamtsicht verleihen, die von musikalischer Intelligenz zeugte. Das ist Virtuosität, aber niemals eine Virtuosität um ihrer selbst willen, sondern im Dienste der Musik. In der Canzonetta des langsamen Satzes setzte er wunderschöne Gegensätze, wenn er, wie von Tschaikowsky natürlich verlangt, zunächst mit Dämpfer eine sehr dunkle Klangfarbe erzeugte, danach aber zum helleren Spiel überging. Und im Finale konnte er nochmals seine Fingerfertigkeit unter Beweis stellen, vielleicht hier ein klein bisschen zu demonstrativ. Wer mochte es ihm verdenken, das Publikum in jedem Fall nicht. Der lang anhaltende Jubel war berechtigt.
Schon im Pflichtwerk von Michael Jarrell konnte William Hagen souverän eine eigene Geschichte erzählen, den Hörer mitnehmen auf eine musikalische Reise, die authentisch war. Hagen war von der ersten bis zur letzten Note souverän und damit ein weiterer Kandidat für einen Preis.
Beim ersten Kandidaten des Abends, dem 28-jährigen Chinesen Xiao Wang, bin ich mir da nicht so sicher. Gewiss, auch Wang ist ein fantastischer Violinist, der vordergründig eine enorme Selbstsicherheit ausstrahlt. Ihm schien das Sibelius-Konzert keine Schwierigkeiten zu bereiten, bis zum Finale, da schwanden doch die Kräfte, das war nicht nur bei einigen Intonationsproblemen, sondern auch bei Nachlässigkeiten in den Läufen deutlich hörbar. Seine Interpretation des Pflichtwerks zählte zu den weniger spannenden in dieser Woche. Er wirkte zwar immer sehr engagiert, aber klanglich ging er im Orchester fast unter, aber im langsamen Teil kreierte er eine sehr spannende Traumsequenz. Das war wiederum sehr originell.
Am Freitag und Samstag sind die vier letzten der insgesamt zwölf Finalisten an der Reihe. Und ich denke, dass wir noch die eine oder andere Überraschung erleben werden. Wenn man von den Auftritten der ersten Runde und des Halbfinales ausgeht, dann können der Ukrainer Oleksii Semenenko und der Amerikaner Stephen Waarts für herausragende Konzertabende sorgen. Semenenko studiert derzeit beim legendären Zakhar Bron, der unter anderem Vadim Repin und Maxim Vengerow zu seinen Schülern zählte und der Benjamin des Wettbewerbs, der erst 18-jährige Stephen Waarts ist im besten Sinne des Wortes ein Wunderkind. Ob er auch schon ein Preisträger des Concours Reine Elisabeth ist, das werden wir in der Nacht von Samstag auf Sonntag erfahren, wenn die hochkarätig besetzte Jury ihr Urteil abgegeben hat. Spannend bleibt es in jedem Fall bis zum letzten Kandidaten.
Aber abgesehen vom Wettbewerb an sich ist es in erster Linie die Musik selber, die als Gewinner aus dieser Woche hervorgeht. Sechs glanzvolle Konzertabende vor begeistertem Publikum im Palais des Beaux-Arts, die von vielen tausend an den Rundfunk- und Fernsehgeräten verfolgt werden, sind eindrucksvoller Beleg, wie spannend und unterhaltend klassische Musik auf allerhöchstem Niveau ist.
Bild: Laurie Dieffembacq (belga)