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Es ist sicher ein gewagtes Unterfangen, die Schrecken des Ersten Weltkriegs in Worte und Musik zu fassen, und dann noch auf die Bühne zu bringen. Dass es auf eindrucksvolle Art und Weise gelingen kann, zeigt die Brüsseler Oper "La Monnaie" seit Freitagabend mit "Shell Shock" von Nicholas Lens und Nick Cave. Der australische Rockstar und Autor liefert mit zwölf Texten die Vorlage zur Musik des belgischen Komponisten. Zwölf Songs über die Grausamkeit des Krieges, nicht nur des Ersten Weltkriegs: Es sind Lieder (oder Canto) des Kolonialsoldaten, der Krankenschwester, der trauenden Mutter, der Deserteure und zum Schluss des Waisenkindes. Nicholas Lens versteht es jeder Figur, jeder Szene, die angemessene musikalische Dichte zu verleihen. Seine Tonsprache ist immer zugänglich, erinnert manchmal ein wenig an hervorragende Filmmusik, scheut aber auch nicht wie im Eingangschoral avantgardistische Momente und lässt im Schlusssong, die Stimme eines Knaben ganz alleine den Verlust des Vaters und der Mutter besingen.
Choreograph Sidi Larbi Cherkaoui schafft es, die zwölf Songs zu einem nahtlos ineinander fließenden Szenario verschmelzen zu lassen und dies mit recht wenigen und einfachen Elementen, aber wie er sie einsetzt, das ist von einer Bilderkraft, die man so schnell nicht vergisst. Immer wieder bauen sich aus einer einzigen weißen Wand vier Etagen auf, die dem Chor und den Tänzern Raum bieten und neue Perspektiven offenlegen. Die Tragbahren werden bis hin zu einem stilisierten Klavier verwandelt, in den Laken werden die verzerrten schreienden Gesichter der getöteten Soldaten noch erschreckender und wahrer. Aus den Körpern der Soldaten entwickeln sich ganz zu Beginn die Schützengräben, die das Bild des Ersten Weltkriegs prägten und in denen die Soldaten über Tage ausharren mussten und deren Folgen der Shell Shock, das psychosomatische Kriegszittern war. Wie Cherkaoui es versteht, die Körper sprechen zu lasen, ist ganz große Kunst.
Die Uraufführung von "Shell Shock" ist wieder einmal ein eindrucksvoller Beleg, dass "La Monnaie" zu den Spitzenhäusern in Sachen Musiktheater weltweit zu zählen ist und dies jetzt schon bei einem Etat, der weit hinter den vergleichbaren Institutionen in Europa zurückliegt. Wie sagte Direktor Peter De Caluwe es schon vor Jahren: ""La Monnaie" spielt in der Champions League mit einem Etat, der nicht mal der zweiten Division entspricht." Und jetzt legt die Föderalregierung, die ja für die Brüsseler Oper, das Belgische Nationalorchester und Bozar den Finanzrahmen festlegt, da diese drei Kulturanbieter nicht vergemeinschaftet sind, Budgetkürzungen vor, die den Fortbestand dieser Einrichtungen mehr als gefährdet.
Für "La Monnaie" würde dies, nach den ohnehin schon erfolgten Kürzungen der letzten Jahre, ein echter Kahlschlag sein. In den nächsten fünf Jahren würde der Zuschuss um 6,5 Millionen Euro gekürzt. Rechnet man die Gesamtkürzungen der letzten fünf Jahre hinzu, kommt man auf 30 Prozent. Das ist bei allem Verständnis für die prekäre finanzielle Situation nicht zu verantworten. Denn "La Monnaie", und auch die anderen kulturellen Einrichtungen, sind nicht nur internationale Aushängeschilder unseres Landes, sondern die Kultur zeichnet auch eine Gesellschaft aus. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass hier bewusst politisch Eingriff genommen wird in die manchmal unbequeme Kreativität der Künstler. In Italien ist Berlusconi ähnlich vorgegangen und es wird wohl Jahrzehnte dauern, ehe die italienische Kulturszene sich davon erholt haben wird.
Und eine Bemerkung sei auch noch erlaubt: Wenn der aktuelle Staatssekretär für Asyl, Theo Francken, vor Jahren sich fragen konnte, was die marokkanischen Einwanderer Belgien gebracht haben, dann sollte er sich als Antwort auf diese Frage diese Produktion des Antwerpener Künstlers mit marokkanischen Wurzeln, Sidi Larbi Cherkaoui, anschauen.
Alle Vorstellungen von Shell Shock sind restlos ausverkauft.
Bild: Filip Van Roe