So hat man die Traviata wohl noch nie gesehen und gehört. Wer bei der aktuellen Produktion der Brüsseler Oper La Monnaie eine weitere Ausstattungsoper mit schönen Kostümen und melodramatisch kitschiger Sichtweise erwartet hat, der wurde zwangsläufig enttäuscht. Die Missfallensäußerungen eines Teils des Premierenpublikums waren dafür ein deutlich hörbarer Beleg. Aber es gab auch viel Beifall für eine Inszenierung, die zum Nachdenken anregt und sicher viel Wahres nicht nur über die Geschichte der Violetta Valéry und ihrer Umgebung preisgibt.
Violetta, also die Traviata, ist schon bei Verdi eine Kurtisane. Bei Andrea Breth wird Violetta zu einer zur Edelhure aufgestiegenen Prostituierten. Breth bringt das Milieu in seiner ganzen Vielschichtigkeit auf die Bühne. In einem dunklen schmutzigen Containerhafen erreichen die Prostituierten, die aus welchen Ländern auch immer kommen, die Welt der Reichen, die dann in der eiskalt edlen Welt des Swinger Clubs des dritten Aktes ebenso schmutzig ist. Am Ende landet Violetta wieder im Dreck, auf der Straße. Das kann schockierend wirken, aber entspricht doch der Realität. Andrea Breth zeigt uns in aller Härte die dunklen Kehrseiten einer bigotten Gesellschaft.
Diese Härte ist auch in der Musik zu hören. Dirigent Adam Fischer lässt Verdis Musik ohne jegliche schwülstige Melodramatik erklingen. Dies ist von einer absolut nachvollziehbaren Logik. Das Drama findet in seiner Konsequenz auch im Orchestergraben statt. Dabei gewährt Fischer den Sängern auf eine bemerkenswerte Art den Freiraum, die einzelnen Figuren großartig zu charakterisieren. Scott Hendricks ist ein grandioser Vater Germont. Sein Duett mit Violetta im zweiten Akt ist von einer selten gehörten und gesehenen Intensität. Mit Sebastien Guèze ist ein wirklich junger Alfredo Germont zu sehen und zu hören.
Aber am beeindruckendsten ist Simona Saturova, die ebenfalls ihr Debüt als Violetta gibt. Auch wenn hier in keiner Szene auf die Tränendrüse gedrückt wird, leidet man als Beobachter mit dieser Frau, ebenso wie mit den anderen Personen in all ihrer Zerrissenheit. Das ist ganz großes Musiktheater.
Allerdings seien zwei Bemerkungen erlaubt. Ob der Chor tatsächlich im Orchestergraben singen muss, sei dahingestellt. Mir wäre es lieber gewesen und ich denke es wäre auch in dieser Inszenierung sogar möglich, ihn ins Bühnengeschehen einzubinden. Und warum ein junges Mädchen in der an Klarheit ohnehin sehr offensichtlichen Szene im Swinger Club noch einen zusätzlichen Aspekt der Pädophilie einbringen musste, ist mir dann auch des Guten oder des Bösen zu viel. Aber abgesehen von diesen beiden Details ist diese Traviata von einer unglaublichen Kohärenz und Ehrlichkeit, die unter die Haut geht. Die Wahrheit, auch auf der Opernbühne, kann und soll manchmal schmerzvoll sein.
Bilder: Bernd Uhlig