Klar verständlich in der Konzeption, ästhetisch grandios in Bilder gesetzt, in der Diktion perfekt und unvergleichlich einfühlsam gesungen und von einer Sinnlichkeit und Intensität aus dem Orchestergraben getragen, wie man es sich schöner nicht vorstellen kann: Diese Premiere von Alban Bergs "Lulu"“ in der Brüsseler Oper La Monnaie wird allen Ansprüchen gerecht.
Regisseur Krzystof Warlikowski bringt Lulu nicht als Femme Fatale auf die Bühne, sein Ansatz ist ein anderer. Lulu ist vielmehr eine Vorwegnahme von Nabokovs Lolita, die - von den Männern verführt und benutzt - auf der Suche nach der wahren Liebe ist, die ihr nur von der Gräfin Geschwitz entgegengebracht wird. Nachdem sie selbst zur Mörderin an ihren Ehemann Dr. Schön geworden ist, flieht sie nach London und fällt selber Jack the Ripper zum Opfer, der - wie von Alban Berg vorgesehen - von dem Sänger gesungen wird, der zuvor den Dr. Schön darstellte.
Warlikowski versteht es, die Handlung in einer bewundernswert deutlichen Lesbarkeit zu inszenieren. Er schafft Bilder, die einen nicht loslassen. Man spürt, dass alles durchdacht, nichts zufällig oder ohne Hintersinn ist. Mehr noch: Jede Szene ist schlüssig erzählt und wird gleichzeitig analytisch-poetisch gedoppelt, gebrochen, weitergeführt. So lässt er Lulu, die immer davon geträumt hatte, Primaballerina zu werden, in einer klassischen Ballettszene ihr Glück suchen.
Hier und auch in weiteren Szenen kommen die Ballettschülerinnen und Schüler des Balletts von Flandern zum Einsatz. So werden sie in der Schlussszene der Oper, unschuldig auf ihren Betten liegend, zu Zeugen des Mordes an Lulu und der Gräfin. Wird sie so aussehen, die Welt der Erwachsenen? Lulus eigener Traum vom Ballett wird am Ende des ersten Aktes schon zum Albtraum. Ihr Zusammenbruch ist für jeden Beobachter körperlich nachzuempfinden.
In dieser Szene setzt Warlikowski tatsächlich eine Tänzerin ein, obwohl ich mir fast sicher bin, dass Barbara Hannigan, die Darstellerin der Lulu, auch dies ebenso intensiv hätte interpretieren können. Denn Barbara Hannigan singt nicht nur mit einer unglaublichen Leichtigkeit und Perfektion die anspruchsvolle Partie der Lulu, sie verblüfft mit einer tänzerischen Leistung, die einmalig sein dürfte, einer Körperbeherrschung, die ihres gleichen sucht und einer schauspielerischen Präsenz, die atemberaubend ist.
Allein sie ist schon ein Ereignis. Aber, und das ist ebenso bemerkenswert, lässt sie in der sehr genauen und inspirierten Personenführung Warlikowskis den anderen Protagonisten auch Raum, ihre Charaktere zu entfalten. Besonders erwähnenswert sind Dietrich Henschel als Dr. Schön und Jack the Ripper, Natascha Petrinsky als Geschwitz und Charles Workman als Alwa. Absolut hervorzuheben ist die Aussprache aller Sänger. Jedes Wort ist klar verständlich.
Dies ist auch das Verdienst des Dirigenten Paul Daniel. Unglaublich feinsinnig, ohne falsches Pathos und stets der immanenten Sinnlichkeit der Partitur gerecht werdend schafft er mit dem glänzend aufspielenden Orchester der Monnaie wunderschöne Farben. In den kurzen, aber sehr wichtigen Zwischenspielen lässt er dann die ganze Wucht des Klangspektrums auffahren.
Bühnenbild, Kostüme und nicht zuletzt die Lichtregie runden die Produktion kongenial ab.
Diese "Lulu" wird man so schnell nicht vergessen. Mit dieser Produktion setzt die Monnaie schon früh in der Saison ein echtes Highlight. Bis zum 30. Oktober steht "Lulu" auf dem Spielplan. Ein Besuch ist unbedingt zu empfehlen.
Bilder: Bernd Uhlig