Es sollte wieder einmal ein Opernabend werden, den man so schnell nicht vergisst. Wenn der Vorhang sich hebt, blickt man auf einen vierstöckigen Fries mit unzähligen Figuren in Brauntönen. Aber dies sind nicht ausschließlich Skulpturen, der Chor stellt die meisten dieser zunächst starren Figuren dar, die sich langsam mit Leben erfüllen.
Schon dieses Eingangsbild ist von einer überwältigenden Kraft. Zumal der Chor der Monnaie in einer unglaublichen Perfektion und Ausgeglichenheit singt, die sich den ganzen Abend über durchziehen wird. Der Chor spielt ohnehin in dieser Enescu-Oper neben dem Protagonisten Oedipus die Hauptrolle.
Enescu und sein Librettist Edmond Fleg erzählen die Geschichte des Oedipus von seiner Geburt über den Vatermord und der Ehe mit der eigenen Mutter bis hin zum Tod und damit der Erlösung des Titelhelden. Regisseur Alex Ollé und seine katalanische Theatertruppe La Fura dels Baus erzählen die Geschichte auf sehr klare nachvollziehbare Weise in mythischen Bildern, die eine wunderbare Verbindung mit historischen Referenzen eingehen.
Nach dem alles bestimmenden Fries im Prolog zur Oper erleben wir Oedipus bei Mérope auf der berühmten Couch von Sigmund Freud, die Sphinx steigt in einer atemberaubenden Szene mit einer Stuka vom Bühnenhimmel herunter, später wird das von der Pest befallene Theben und seine Bewohner von einer ockerfarbenen Schlammschicht bedeckt, die an die zahlreichen Umweltkatastrophen der letzten Jahre erinnert. Eine solche in Ungarn vor einem Jahr war für Alex Ollé der Ausgangspunkt. All diese unglaublich starken Bilder sind nie ohne tiefen Hintersinn, genau durchdacht, großartig choreographiert und in Szene gesetzt. Das ist Musiktheater in Perfektion.
Mit Leo Hussain hatte La Fura dels Baus schon vor zwei Jahren bei der ebenso begeisternden Produktion von Ligetis "Le grand macabre" zusammengearbeitet. Auch diesmal steht der englische Dirigent am Pult und schafft es die unglaublich dichte und großbesetzte Partitur in allen Feinheiten, transparent und, wenn verlangt, auch großflächig zu spielen. Das Drama spielt sich auch im Orchester ab und verleiht der ganzen Aufführung ein packendes Gesamtbild.
Diese Oper verlangt neben dem Chor nur eine Hauptpartie, eben jene des Oedipe. Es gibt kaum eine anspruchsvollere und auch anstrengendere Partie als diese. Unser Landsmann Jose Van Dam soll sich, obwohl er eine sehr überzeugende Schallplattenaufnahme vorlegte, stets geweigert haben, die Rolle auf einer Bühne zu singen. Dietrich Henschel wagt es und gewinnt auf der ganzen Linie. Ob in baritonaler Höhe oder in fast schon schwarzer Tiefe, er singt und belebt mit seiner Stimme die Gefühlswechsel des Oedipus. Ihm zur Seite stehen, in zugegeben sehr kurzen Rollen, unter anderem Ilse Eerens als wunderbar unverfälschte Antigone und vor allem die kraftstrotzende Marie-Nicole Lemieux als Sphinx. Sie ist in ihrem nur wenige Minuten dauernden Auftritt ein echtes Ereignis.
Lassen sie sich die Gelegenheit nicht entgehen, diese Produktion zu sehen. Bis zum 6. November steht "Oedipe" auf dem Programm der Monnaie.
Bild: Bernd Uhlig