Warum lässt uns "La Bohème" nicht unberührt? Es ist gewiss das geniale Zusammentreffen einer unvergleichlich intensiven Musik mit einer bewegenden Story. Die Liebesgeschichte der todkranken Mimi und des aufstrebenden jungen Dichters Rodolfo, der mit seinen Bohémien-Freunden in den Tag hinein lebt. Am Ende der Oper stirbt Mimi in den Armen Rodolfos. So kennen wir "La Bohème" von vielen Inszenierungen.
Aber Andreas Homoki hat eine etwas andere Sicht auf Puccinis Meisterwerk. Bei ihm gibt es eine zwei Jahrzehnte überbrückende Entwicklung und der Gegensatz zwischen den Männern und Frauen, oder sollte man besser sagen Mädchen, wird deutlich herausgestellt.
Der Dichter Rodolfo und vor allem sein Malerfreund Marcello, die zu Beginn der Inszenierung junge und von allen Konventionen sich befreiende Künstler sind, erscheinen im letzten Akt um rund 20 Jahre älter und haben es geschafft. Sie brauchen sich nicht mehr am Feuer in einer Regentonne auf der Straße zu erwärmen, sondern dinieren nun an einer edlen, fein gedeckten Tafel.
Der Philosoph Colline hat den sozialen Aufstieg noch nicht geschafft, er trägt immer noch die selbe Kleidung wie zu Beginn und muss, wie das Libretto es auch verlangt, seinen Mantel verkaufen, damit die Medikamente für Mimi erworben werden können. Mimi und Musetta sind beide die mittellosen jungen Frauen geblieben, mit denen das Schicksal es nicht so gut gemeint hat. So wird das Schlussbild auch das vielleicht stärkste der gesamten Inszenierung: Musetta steht allein Mimi in ihrer Todesstunde bei.
Frei interpretiert
Es ist müßig, darüber zu streiten, ob man das Libretto so weitgehend interpretieren darf. Wenn es mit einer solch logischen Konsequenz wie in dieser Produktion von Homoki angegangen wird, dann ist dies nachzuvollziehen. Dann bedarf es weder einer kitschigen, heruntergekommenen Künstlerwohnung noch des Blicks auf die Dächer von Paris. Die bei Homoki ansonsten meist komplett leere Bühne wird von einem riesigen Weihnachtsbaum bestimmt, der vom Chor im zweiten Akt aufgestellt und nach und nach geschmückt wird und dann, wenn die Handlung ins Tragische bricht, tatsächlich umfällt. Vielleicht eine etwas vordergründige Symbolik.
Homoki greift in seiner Personenführung manchmal auf altbewährte Tricks zurück. So gibt es genau passend zur Musik immer wieder Bilder im Stillstand, die sich langsam weiter bewegen und eine cineastische Kraft haben. Dazu trägt auch die gelungene Lichtregie bei. Großartig gestaltet er das Quartett von Mimi, Rodolfo, Musetta und Marcello im dritten Akt.
Musikalisch überzeugend
Dass diese Bohème uns unmittelbar berührt, ohne je ins Kitschige abzugleiten, liegt auch an der musikalischen Leitung von Carlo Rizzi. Er entfaltet im Orchestergraben eine packende Dramatik und scheint die Sänger in jeder Szene förmlich zu tragen, jede Phrase mitzusingen. Mit zart zerbrechlicher Leichtigkeit interpretiert Ermonela Jaho die Partie der Mimi, Anne-Catherine Gillet ist die extravertierte lebhafte Musetta, eine Rolle, in der die junge belgische Sopranistin vollends aufgeht. Ebenso beeindruckend ihre männlichen Gegenspieler, respektive Liebhaber: Giuseppe Filianoti mit strahlendem Tenor und Massimo Cavalletti als eindringlicher Marcello. Auch alle weiteren Partien sind hervorragend besetzt. Genauso überzeugend sind Chor und Kinderchor der Monnaie.
Bis zum Silvesterabend steht "La Bohème" auf den Spielplan der Monnaie. Aufgrund der dichten Aufführungsfolge sind für die Hauptpartien Doppelbesetzungen vorgesehen.
Bild: La Monnaie