Donnerstagabend wird das Finale des Eurovision Song Contest 2021 komplettiert. Auch im zweiten Halbfinale werden zehn Songs weiterkommen, die am Samstag im großen Finale dieser sehr denkwürdigen Ausgabe um die Krone des größten Musikspektakels der Welt kämpfen. Das bedeutet aber auch, dass diesmal eine Nation mehr (sieben, statt sechs wie im ersten Halbfinale) die Koffer packen muss. Überhaupt ist die zweite Runde stärker besetzt als die erste.
Im Vorfeld gab es jede jede Menge Schelte in Richtung Organisatoren, weil zu jeder Show 3.500 Zuschauer zugelassen sind, und das in Corona-Zeiten und in den Niederlanden, die als Hochinzidenzgebiet gelten und mit ihren Corona-Zahlen an der Weltspitze stehen. Und das gleich neun Mal (jeweils eine Generalprobe, ein Juryfinale und die eigentliche Show). Da sieht man eng zusammensitzende Menschen ohne Masken und Mindestabstand und fragt sich: Wie ist das möglich?
Das geht, weil die niederländische Regierung den Eurovision Song Contest als "Field-Lab" (Feldversuch-Experiment), also als Test-Veranstaltung, aufgenommen hat. Darin soll geklärt werden, ob und wie sich Großveranstaltungen mit der Pandemie vertragen. Damit sollen die corona-geplagten Niederländer ein wenig versöhnt werden und auch die Mienen einiger Unternehmer aufgehellt werden. Ein Experiment, das Experten als gefährlich einstufen und Kritiker als verschwendete Steuergelder sehen - von 1,2 Milliarden Euro ist die Rede. Selbst die Stadt Rotterdam sieht das Risiko als sehr ernst. Aber was soll's: The Show must go on! Das sind die Lieder im zweiten Halbfinale:
San Marino - Estland - Tschechien - Griechenland
Die Sängerin Senhit wurde in Bologna geboren, nachdem ihre Eltern aus Eritrea ausgewandert sind. 2011 vertrat sie erstmalig San Marino, konnte jedoch in Düsseldorf mit „Stand By“ nicht das Finale erreichen. "Adrenalina" ist ein Tanz-Popsong mit folkloristischen Elementen. Zu Beginn ziert Senhit ein übergroßer, barock überladener, kreuzförmiger Kopfschmuck mit Heiligengemälden. Da der aber für weitere Bewegungen zu unpraktisch wäre, wird er ihr auch gleich von ihren vier Begleittänzern, die völlig in weißen Schutzanzügen und Gesichtsmasken stecken, abgenommen. Senhit dagegen trägt ein enges schwarzes Hosen-Kostüm und erinnert ein wenig an Tina Turner. Das Finale wird sie wohl sicher erreichen. Ihr Ziel ist es, den bisher besten 19. Platz von 2019 zu übertreffen. Im Video ist der US-amerikanische Erfolgsrapper Flo Rida zu sehen. Bei der Probe zum zweiten Halbfinale steht Flo Rida tatsächlich mit dem Rap-Teil des Songs auf der Bühne.
Viele Länder nominierten nach dem abgesagten Contest 2020 den gleichen Interpreten auch für 2021, nicht so Estland. Auch der 28. nordbaltische Beitrag wurde im Rahmen einer Vorentscheidung gefunden. Aus 156 Vorschlägen gewann schließlich der Vorjahressieger Uku Suviste mit seinem seichten Midtempo-Popsong "The Lucky One". Das Lied erinnert an einen typischen 1980er Jahre-Song. Uku vertraut weiter auf den aus der Vorentscheidung bewährten Auftritt und das Outfit: Gelöste Fliege, bis zur Brust aufgeknöpftes Hemd, als ob er kurz vor dem zu Bett gehen auf der Bettkante sitzen würde. Ob der smarte Este das Finale erreichen wird, ist fraglich.
"Oh my god" - so lautet der eigentliche Ausruf von Benny Cristo aus Tschechien. Der Elektro-Popsong des gebürtigen Pilseners mit angolanischen Wurzeln heißt aber "Omaga", das soll die Reaktion auf eine schöne Frau sein. Der fröhlich entspannte und coole Benny hat große Freude in Rotterdam. Besonders angetan hat dem Veganer "Hagelslag". Die berühmten Schokoflocken als Brotbelag wird er wohl mit nach Tschechien nehmen. Der sympathische und gut durchdachte Auftritt hätte einen Platz im Finale verdient, ist aber nur Außenseiter.
Griechenland tritt mit einem Lied zur Corona-Krise an und meint damit den Verzicht junger Leute auf Spaß in ihrer wichtigen Lebensphase. Das Lied verbreitet aber auch Zuversicht, dass es wieder besser wird. Den 1980er-Jahre Synthy-Pop Song "Last Dance" interpretiert Stefania und die griechischen Journalisten im Ahoy flippen regelmäßig aus, wenn sie die Bühne betritt. Für die in den Niederlanden aufgewachsene Stefania ist der ESC in Rotterdam ein Heimspiel. Sie wechselt spielerisch zwischen Griechisch, Niederländisch und Englisch und fungiert somit auch als Übersetzerin für ihr Team. Die Inszenierung ist sehr kompliziert und bei den ersten Proben funktionierte noch nicht alles so wie es sollte. Die sogenannte Greenscreen-Technik macht es möglich, dass Tänzer als leere Anzüge zu sehen sind und Stefania als Bewohner der „gesichtslosen Großstadt“ gezeigt wird, die erst im letzten Drittel wieder menschlich wird. Auch auf die Gefahr hin, dass die griechischen Pressevertreter dann alle Contenance und Abstandsregeln vergessen: Griechenland wird wohl das Finale erreichen.
Österreich - Polen - Moldau - Island
Gefühlte tausend Mal singt Vincent Bueno dasselbe Wort: "Amen". Er ist der zweite Interpret mit dem gleichen Titel, aber Sloweniens "Amen" hat ja das Finale nicht erreicht. Somit gibt es auch keine Verwechslung. Nach dem tanzbaren Popsong "Alive", den Österreich für 2020 ins Rennen schicken wollte, ist "Amen" ein Hymnensong mit Vincent Buenos Musicalsstimme. Österreich konzentriert sich auf einen einfachen, aber wirkungsvollen Auftritt. Zu Beginn ist Vincent nur im Profil im Lichternebel zu erkennen, er trägt einen schwarzen, mit glitzernden Säumen versehenen Anzug und bleibt überwiegend an Ort und Stelle auf seinem erhöhten Laufsteg stehen. Um ins Finale einzuziehen, braucht es ein paar Gebete mehr.
Erst sehr spät hat Polen das Geheimnis um den Sänger beim ESC gelüftet. Nachdem 2020 die Sängerin "Alicja" die Vorentscheidung gewonnen hatte, entschied man sich dann aber doch für eine Direktnominierung. Rafał Brzozowski ist in seiner Heimat ein Star. Der ehemalige Ringer musste den Sport nach einer Wirbelsäulenverletzung aufgeben. Für seinen ESC-Beitrag "The Ride" wollten die Polen nichts dem Zufall überlassen und ließen den Song von einem schwedischen Autorenquartett schreiben. Der durchschnittliche und etwas eintönige Popsong erinnert an den Stil der 1980er Jahre und wird es wohl nicht ins Finale schaffen.
Natalia Gordienko hat schon ESC-Erfahrung. 2006 war sie in Athen dabei und erreichte damals Platz 20 für Moldau. Wie schon der letztjährige Beitrag wurde auch "Sugar" von Phillipp Kirkorov und Dimitris Kontopoulos komponiert. Kirkorov ist seit seinem Auftritt 1995 in Dublin vom ESC-Geschehen nicht mehr wegzudenken und hat sich zu dessen Paradiesvogel entwickelt. Der weißglitzernde Badeanzug scheint in diesem Jahr in Mode zu sein, denn auch Natalia hat sich für ein solches Outfit entschieden. Songs wie "Sugar" gibt es in diesem Jahr einige, es sticht aus dem Einerlei nicht besonders hervor und zählt zu den Wackelkandidaten für das Finale.
Die überaus sympathische Truppe Daði og Gagnamagnið aus Island wird leider nicht live auf der Bühne stehen. Einer der Bandmitglieder hat sich mit dem Coronavirus angesteckt und somit muss die ganz Band in Quarantäne. Besonders bitter, weil Daðis Ehefrau Árný Fjóla Ásmundsdóttir (das ist die lustige Rothaarige mit dem einen Drittel des Kreiskeyboards) schwanger ist. Es wurde entschieden, dass die zweite Probe als Einspieler gesendet wird. Bereits im letzten Jahr sollten der 2,08 Meter große Daði Freyr Pétursson und seine Datenmenge (Übersetzung von Gagnamagnið) mit dem Beitrag "Think about this" antreten. Und wäre die Veranstaltung nicht abgesagt worden, hätte Island zum ersten Mal in seiner ESC-Geschichte den Sieg erreichen können. Hätte, hätte ... "10 Years" ist die direkte Fortsetzung des letztjährigen Beitrags und bringt gute Laune auf die Bühne. Ich würde mir den Sieg für diese netten -dóttirs und -ssons wünschen. Wird nicht so kommen, aber Top fünf sollte drin sein.
Serbien - Georgien - Albanien - Portugal
Serbien bringt den typischen Balkan-Pop auf die Bühne mit der Option auf einen billigen Sommerhit. Die drei Sängerinnen der gecasteten Band Hurricane sollten schon 2020 ihr Land vertreten und der staatliche Sender RTS schickt sie erneut ins Rennen. Let’s dance unter der imaginären Disco-Kugel. Hurricane machen die Bühne mit serbischer Frauenpower zum Dancefloor und erinnern mit ihrem Look an die "Drei Engel für Charlie". "Loco Loco" heißt der Song und warum sich die Serben ausgerechnet für einen spanischen Titel ausgesprochen haben, erschließt sich mir nicht. Bleibt zu hoffen, dass die extrem langen Haarextensions bis ins Finale halten, denn da werden sie leider mit Sicherheit landen. Hab ich jetzt echt "leider" gesagt?
Für Tornike Kipiani tut es mir echt leid. Ich mag seine Ballade, die zwar keine Höhepunkte hat, aber leidenschaftlich gesungen ist. Der dreifache Vater aus Georgien hat das Lied "You" selbst geschrieben. Auf der riesigen Eurovisionsbühne hat sich die Delegation für eine bewusst zurückhaltende Inszenierung mit sehr dezentem Farbenspiel in blau-weiß entschieden. In dem gesanglich und zahlenmäßig überlegenen zweiten Halbfinale wird es sicher nicht für das Finale reichen. Schade!
Schon wieder ein silbern glitzernder Badeanzug. Diesmal steckt dort Anxhela Peristeri aus Albanien drin. "Karma" könnte man als Balkan-Pop-Ballade mit Ethno-Elementen bezeichnen. Im Lied geht es um den tiefen Fall einer verwöhnten, herzlosen Frau. Nach dem sehr melancholischen und ruhigen Auftritt von Georgien kommt der albanische Beitrag wie ein Paukenschlag daher und wird vor allem bei den Dance-Freunden punkten. Anxhela wird es wahrscheinlich ins Finale schaffen.
Da ist sie wieder! Tolle Musik, die einem Song Contest würdig ist. "Love is on my Side" der "Black Mamba" ist das Belgien im zweiten Halbfinale, eine großartige Ballade, die aus zwanzig Beiträgen der Vorentscheidung in Portugal als Sieger hervorging. Anfangs wird die Band in schwarz-weiß gezeigt, Sänger Pedro Tatanka, der das Lied auch geschrieben hat, singt lässig mit seiner einzigartigen, auffälligen Stimme, schick gekleidet mit weißem Panamahut, eine Hand in der Hosentasche. Dann wird das Bühnenbild farbig, auf die seitlichen LED-Vorhänge wird eine Szene wie aus einem Toulouse-Lautrec-Gemälde projiziert und erzählt die Geschichte des Liedes: Eine Frau, die mit ihren Träumen in die Niederlande ging und dort bei Drogen und Prostitution landet, aber dennoch an die Liebe glaubt. Portugal: twelve points!
Bulgarien - Finnland - Lettland - Schweiz - Dänemark
Victoria aus Bulgarien wäre, wenn der ESC 2020 stattgefunden hätte, eine große Mitfavoritin gewesen. Da war schnell klar, dass die junge Sängerin aus Warna am schwarzen Meer auch 2021 wieder antreten würde. Die sechs potentiellen Songs wurden auf Victorias Homepage veröffentlicht und ihre Fans auf der ganzen Welt waren aufgerufen, ihre Kommentare und Anregungen dazu abzugeben. Sie hatten aber kein offizielles Mitspracherecht. Der endgültige Beitrag "Growing up is getting old" wurde schließlich in einem internen Auswahlverfahren festgelegt. Viktoria hat eines der schönsten Bühnenbilder in diesem ESC. Sie sitzt auf einem großen Felsen im Wasser, aus einer Fontäne kommt feiner Sand, der durch ihre Hand gleitet. Der soll die Zeit symbolisieren, die viel zu schnell durch die Finger rinnt. Neben ihr liegt ein Foto, das sie mit ihrem Vater zeigt, der krank ist und wegen der Pandemie nicht in die Niederlande reisen kann.
Nach der zarten Stimme aus Bulgarien wird es laut! Will ich es positiv ausdrücken, würde ich es "Ohrwurm-Rockhymne mit langhaarigen Sängern im massentauglichen Linkin-Park-Stil" nennen. Die Rockfans mögen mir verzeihen: Es ist Krach! Zum ESC kamen Blind Channel, weil einer von ihnen die Idee dazu hatte. Die anderen haben dann erkannt, dass es zwei Möglichkeiten gibt: Rumsitzen und die Karriere riskieren oder die Vorentscheidung als publikumswirksame Chance für eine größere Öffentlichkeit nutzen. Im Gegensatz zu ihnen hätten aber andere Gruppen in Finnland nicht die Eier dazu (O-Ton: "Don´t have the balls"). Die Finnen haben überhaupt nicht vor, einem Vergleich mit Lordi, den finnischen Siegern 2006, standzuhalten. Diese Musikstile seien nicht vergleichbar, Lordi würden altmodische Musik machen, ihren Stil nennen sie "Violent Pop". In "Dark Side" geht es um die Frustration in dieser Welt, der will die Band den Stinkfinger zeigen und damit den auch jeder sieht, haben die Hardrocker ihre Mittelfinger zur visuellen Unterstützung rot angemalt. Die Fans ruhiger Musik müssen es mit mir ertragen: Finnland kommt definitiv ins Finale und wird ziemlich weit oben landen.
Jetzt wird es grün auf der Bühne! Sowohl Sängerin Samanta Tina, als auch ihre drei Tänzerinnen mit Gesichtsvisier haben sich für die Farbe der Hoffnung entschieden. Die Sängerin aus Lettland will seit acht Jahren zum ESC, zweimal nahm sie an der Vorentscheidung in Litauen teil, fünfmal versuchte sie es beim lettischen Vorentscheid "Supernova". Dann endlich hat es geklappt und dann wurde die Veranstaltung wegen der Pandemie abgesagt. Samanta Tina soll darüber viele Tränen vergossen haben. Die waren aber wieder schnell getrocknet, als das lettische Fernsehen ihre Direktnominierung für dieses Jahr bekannt gab. "The Moon is rising" heißt die Midtempo-Elektro-Nummer mit Hip-Hop-Elementen, in der es um eine Frau auf Männerfang geht. Die Hoffnungsfarbe wird nichts nützen, Lettland hat kaum Chance auf den Finaleinzug.
Eines der Highlights des zweiten Halbfinales ist zweifellos der Beitrag aus der Schweiz. Und schon wieder eine Ballade! "Tout l´univers" hat Ohrwurm-Charakter und wird von Gjon´s Tears mit der Kopfstimme gesungen. Der Sänger mit den albanischen und kosovarischen Wurzeln kam eher zufällig zur Musik und landete als Zwölfjähriger bei einer Casting-Show auf dem dritten Platz. Angemeldet hatte ihn sein Großvater, der vom Gesang des Enkels immer zu Tränen gerührt war. Daher auch der Künstlername "Tears". Das ganze Universum, so der übersetzte Titel, wird Gjon´s nicht auf die Bühne zaubern, das Bühnenbild überzeugt besonders die Menschen, die das Video kennen, nicht. Er kann nicht tanzen, seine Bewegungen wirken linkisch und der schweizerische Choreograf hätte nicht darauf bestehen sollen. Trotzdem wird der Schweizer Beitrag im Finale weit oben mitmischen.
Und zum Schluss noch ein Schuss 1980er Jahre! Dänemark setzt mit dem Beitrag "Øve os på hinanden" auf die Landessprache. Das Lied von Jesper Groth und Laurits Emanuel, die zusammen das Duo Fyr og Flamme (Feuer und Flamme) bilden, bringen einen schönen Schlagerpopsong auf die Bühne, mit viel Nostalgie, Ironie und vor allem guter Laune. Die Reinkarnation von Modern Talking. Ihren Auftritt aus dem Dansk Melodi Grand Prix haben sie in nahezu naturgetreuer Kopie auf die Rotterdamer Bühne gebracht. Jesper flitzt fröhlich wie nie auf und über die Bühne und freut sich sichtlich drei Minuten lang über seinen herrlichen Retroschlager. Man spürt deutlich, wie viel Spaß die beiden auf der Bühne haben und das würde ich sehr gerne noch einmal im Finale sehen.
Biggi Müller