Es ist immer etwas besonderes, wenn die Delegationen der "Big Five" auf dem ESC-Zirkusgelände auftauchen. Da hängt auch immer ein bisschen Arroganz in der Luft, denn sie brauchen sich ja nicht mehr zu qualifizieren.
In diesem Jahr sind Frankreich und Italien große Favoriten und werden wohl auch um den Sieg singen. Deutschland und Spanien sind nicht so recht einzuschätzen, das kann aus heutiger Sicht so oder so ausgehen, aber Großbritannien wird wohl auf den hinteren Plätzen landen. Auch die Niederlande zählt als Gastgeber zu den Teilnehmern, die für das Finale qualifiziert sind. Hier steht auch schon die Startnummer 23 fest, während die anderen Länder noch nicht wissen, wann sie auftreten.
Ob erste oder zweite Hälfte des Finales wird ausgelost und die Regie legt die Reihenfolge fest, wobei auch der Aufwand der Umbauten zwischen den einzelnen Titeln eine große Rolle spielt. Aber soweit ist es ja noch nicht.
Deutschland - Frankreich - Großbritannien
"Jeder fährt doch hin um zu gewinnen, oder? Mein Ziel ist es natürlich, Erster zu werden, aber ein weiteres Ziel ist es, die Botschaft des Songs den Menschen nahe zu bringen. Wichtig ist auch die Grundidee des ESC, dass alle gemeinsam die Musik feiern, Spaß haben und auch das Thema Diversity gehört zum ESC." Das sagte Jendrik aus Deutschland im Interview. Der ESC sei schon immer sein Kindheitstraum gewesen. Und da er nicht berühmt sei, habe ihn natürlich niemand gefragt, ob er teilnehmen wolle. Dann hat er seinen Traum in die Welt hinausgeschrieen und siehe da, jemand, der jemanden kennt, der einen kennt, der ... und nun kann er es noch gar nicht fassen, Deutschland beim ESC vertreten zu dürfen.
"I Don’t Feel Hate" hat Jendrik selbst komponiert und geschrieben, es ist eine Gute-Laune-Nummer, die sich mit dem aktuellen Thema "Hate Speech" auseinandersetzt, dem der Stinkefinger gezeigt wird. Und gerade der, von einer Tänzerin auf der Bühne kostümiert interpretiert, ist mir persönlich zu viel. Der ganze Auftritt hat einen Slapstick-Charakter, ist bunt und schwungvoll, hat sehr schöne Hintergrund- und Bühnenboden-Effekte und lebt von der großartigen Laune und Lebensfreude des Interpreten und seiner Truppe.
Ganz im Stil des klassischen französischen Chansons präsentiert Barbara Pravi ihren hoch gewetteten Festivalbeitrag "Voilà". Schwarz gekleidet, mit einem ärmellosen und bauchfreien Oberteil, einer schwarzen Seidenhose und Plateauschuhen steht sie hinter dem Mikrofon und zelebriert die herausragende Ballade im Edith-Piaf-Stil. Ihre serbischen Wurzeln helfen vielleicht dabei, auch auf dem Balkan Punkte zu sammeln. Frankreich kann in den Niederlanden auf überwiegend gute Ergebnisse zurückblicken, insbesondere auf den ersten Sieg 1958 in Hilversum. Ein gutes Omen? Barbara hat bereits Song-Contest-Erfahrungen: Beim Junior Eurovision Song Contest 2020 gewann der von ihr geschriebene Titel "J’imagine". Ein Blick auf die Wettquoten ist eindeutig: Dort geht Barbara Pravi derzeit als klare Siegerin hervor.
James Newman aus Großbritannien wurde erst sehr spät für den ESC in Rotterdam nominiert. Die Briten hatten, wie schon im letzten Jahr, auf eine Vorentscheidung verzichtet und schließlich James Newman im Februar als Teilnehmer präsentiert. Bisher ist James nur als Texter und Komponist in Erscheinung getreten, unter anderem mit Songs für Ed Sheeran und seinen jüngeren Bruder John. Sein Lied "Embers" ist ein Upbeat-Partysong, dessen Schwerpunkt auf dem starken Einsatz von Blasinstrumenten liegt. Und diese bilden auch das Herzstück der Bühnenshow. Zentrale Bühnenelemente sind zwei überdimensionale weiße Trompeten, die ein schwarzes rundes Podium einrahmen, auf dem James zu Beginn und Ende steht und singt. Sein ebenfalls erfolgreicher Bruder John drückt fest die Daumen - das wird aber nicht viel nutzen, denn die Briten werden wohl, wie in den vergangenen unter "ferner liefen" abschneiden.
Italien - Spanien - Niederlande
Die Hardrock-Fans mögen mir verzeihen! Aus 26 Beiträgen hat beim 71. Festival della Canzone Italiana di Sanremo, besser bekannt als Sanremo-Festival, die Band Måneskin gewonnen, die mit "Zitti e buoni" die ESC-Bühne in Rotterdam rocken, um Italien zu vertreten. Bei den Wettquoten derzeit hinter Frankreich auf Platz zwei gehandelt, ist dieser Titel für mich organisierter Krach, wenn auch nicht ganz so schlimm wie Finnland in diesem Jahr, das ich bei den Songs des zweiten Halbfinales noch genauer beschreiben werde. Måneskin haben sich 2016 gegründet und nahmen ein Jahr später an der Casting-Show "X-Factor" teil, wo sie ganz knapp nicht gewannen. Måneskin ist dänisch und bedeutet "Mondschein". Der Bandname wurde von der dänischen Bassistin Victoria De Angelis kreiert.
Die Inszenierung von "Zitti e buoni" wird dem Hardrock-Genre gerecht: Sänger Damiano David und Gitarrist Thomas Raggi toben über den vorderen Teil der Bühne. Damiano singt dabei mit nackten, tätowierten Oberkörper und spart auch nicht mit einigen angedeuteten Griffen in Richtung Schritt. Der Auftritt ist sehr professionell. Da spürt man den Spaß der Band an Liveauftritten. Souverän toben sie sich durch ihre hardrockigen drei Minuten, wobei Damiano David im Grunde der einzige Sänger der grimmig dreinschauenden Truppe ist. Pyroregen am Schluss ist obligatorisch, obwohl der Zuschauer durch fortwährendes Lichtgeflacker ohnehin schon genug strapaziert wird.
Blas Cantó wird es schwer haben, eine gute Platzierung für Spanien zu erreichen. Er steht in dunkelblauem Licht auf der Bühne, hinter ihm prangt der Sternenhimmel. Während Nebel über den Boden wabert, schwebt ein überdimensionierter Mond hell und bedrohlich über dem einsamen Mann, der die Ballade "Voy a quedarme" interpretiert. Die Zuschauer in Spanien hatten sich gegen die Uptempo-Nummer "Memoria" entschieden und voteten letztlich für "Voy a querarme". In Spanien gehört Blas Cantó zu den gefragtesten Sängern Spaniens und hat sich vor allem bei den jüngeren Fans einen Namen gemacht. Bisher hat er fünf Alben veröffentlicht. Hinter der Geschichte von "Voy a quedarme" (Ich werde bleiben) verbirgt sich der Verlust von geliebten Menschen. Die Inszenierung soll auf den Himmel verweisen, dorthin, wo auch die viel zu früh Gegangenen sind. Schwere Kost!
Die Gastgeber Niederlande werden durch Jeangu Macrooy vertreten. Wie schon im letzten Jahr wurde Jeangu direkt nominiert. Den Grundstein für die Karriere des Sängers aus Surinam legten dessen Eltern, die ihm zum 13. Geburtstag eine Gitarre schenkten. Mit seinem Zwillingsbruder (der übrigens einer seiner Tänzer auf der Bühne ist) gründete er die erste Band. 2014 kam er in die Niederlande, wo er sein Musikstudium in Enschede fortsetzte. "Birth of a New Age" ist ein schwungvoller und mitreißender Ethno-Popsong. Er soll eine Ode für jeden sein, der für sich selbst einsteht und sich traut, die Kraft der Authentizität zu feiern. Das emotionsstarke Werk ist ein stolzer und musikalisch reich arrangierter Song im Zeichen der Titelverteidigung. Sein Outfit ist etwas gewöhnungsbedürftig: Unter dem kurzen blauen Sakko trägt er lediglich ein breites Brustgeschirr aus Leder. Gewagt und seriös zugleich und ein spannender stilistischer Spagat.
Biggi Müller