Gerne hätte ich ein bisschen über die Stimmung in Rotterdam berichtet, aber die bleibt aus bekannten Gründen leider in diesem Jahr auf der Strecke. Die Außengastronomie in den Niederlanden ist zwar geöffnet, allerdings nur bis 18 Uhr, und bei Proben- und Pressekonferenzzeiten bis 19 Uhr in den ersten Tagen bleibt da nichts anderes übrig, als überteuertes Fast Food im Pressezentrum zu kaufen oder auf die Schnelle einen Hamburger im Presse-Restaurant des Ahoy für 17 Euro zu verschlingen, denn auch hier ist um 20 Uhr Schicht im Schacht. Im Hotel ist das Essen und Trinken zwar rund um die Uhr möglich, aber ausschließlich auf dem Zimmer. Die Verantwortlichen geben sich aber redliche Mühe, den vielversprechenden Slogan "open up!" umzusetzen.
Im ersten Halbfinale am Dienstag, dem 18. Mai, wird es ernst für Hooverphonic. Alex Callier, Raymond Geerts und die neue alte Sängerin Geike Arnaert treten mit der Startnummer elf an und müssen sich gegen harte Konkurrenz behaupten, die allerdings im zweiten Halbfinale (20. Mai) nach meiner Einschätzung noch stärker gewesen wäre. Nach Reihenfolge der Auftritte:
Litauen - Slowenien - Russland - Schweden
Die fünf Mitglieder von "The Roop" sind komplett in gelbe Anzüge gekleidet und sehen aus wie menschliche Kanarienvögel. Ihr Lied "Discotheque" führen sie als hektischen Tanz auf. Auch der Hintergrund wechselt hektisch von grellen Farben bis hin zu schwarz-weißen Karos. Litauen verbreitet jede Menge 1980er-Stimmung und wird wohl ins Finale durchmarschieren und dort ganz oben mitmischen.
Stimmgewaltig und ausdrucksstark singt Ana Soklič barfüßig in einen weißen Umhang gekleidet. Slowenien ist mit der Powerballade "Amen" vertreten und darf nicht mit dem gleichnamigen Titel aus Österreich - ebenfalls eine Ballade - verwechselt werden, der aber erst im zweiten Halbfinale zu hören ist. Ein großer Funkenregen und ein gospelartiger Chor im Hintergrund geben dem Song unheimlich viel Kraft. Schade, dass der Chor nicht mit auf der Bühne steht. Ana kann die Vorteile der gigantischen Bühne sehr gut für sich nutzen. Für den Einzug ins Finale sind allerdings noch ein paar Gebete notwendig, was der praktizierenden Christin sicher nicht schwerfällt.
Manizha heißt die Vertreterin aus Russland. Ihr Lied "Russkaya Zhenshchine" lässt sich in keine Genre-Schublade legen, es greift Elemente vieler russischer Musikrichtungen auf und hat nicht das Zeug zum ESC-Ohrwurm. Jedenfalls kommt die farbenfrohe Botschaft der 29-jähriger Singer/Songwriterin eindeutig rüber: Russische Frauen sind keine Stereotypen, sondern sind vielmehr selbstbewusst und kreativ. Das wird auch optisch auf dem riesigen Bühnenhintergrund mit den Bildern russischer Frauen deutlich. Finale wahrscheinlich!
Tousin Michael Chiza, besser bekannt als Tusse, hat das legendäre schwedische Melodifestivalen gewonnen. Der schwedische Sänger mit kongolesischen Wurzeln singt den eingängigen Popsong "Voices", der auch schon oberste Plätze der Charts erreichte. Geschrieben wurde er von bekannten ESC-Songschreibern. Wenn es mit dem Einzug ins Finale für Schweden klappt, dann wahrscheinlich knapp, denn "Voices" ist einer der schwächsten Beiträge Schwedens der letzten Jahre.
Australien - Nordmazedonien - Irland - Zypern
Australien kann in diesem Jahr nicht persönlich am ESC teilnehmen. Montaigne verfolgt die Proben sehr intensiv von Down Under aus, sagte sie in einer zugeschalteten Pressekonferenz. Ihr Lied "Technicolor" wird als einziges während der Show(s) per Videoaufzeichnung gesendet. Die Corona-Auflagen haben die Reise nach Rotterdam verhindert. Als sie erzählte, wie sie versucht, über die sozialen Medien mit den Fans und der Eurovisions-Welt in engem Kontakt zu bleiben, unterdrückte sie nur mit Mühe die Tränen. Das Halbfinale wird sie in einem Green-Room in einem Fernsehstudio verfolgen. Einzug ins Finale fraglich!
Vasil vertritt Nordmazedonien mit dem Beitrag "Here I stand" und steht ganz alleine auf der anfangs dunklen Bühne vor dem Mikrofon. Ganz in schwarz gekleidet, liegt der Fokus erst einmal ausschließlich auf seiner brillanten Stimme. Die dramatische Musical-Ballade hat der in Strumica geborene Sänger selbst geschrieben. Vasil hat schon ESC-Erfahrung: 2019 begleitete er Tamara Todevska, die in Tel Aviv den siebten Platz erreichte, als Chorsänger. Finaleinzug? Ganz schwer zu sagen!
Irland schickt die 34-jährige Lesley Roy ins Rennen. Sie ist eine Singer/Songwriterin aus Balbriggan/Dublin, die zwischen ihrer irischen Heimatstadt und dem East Village in New York City pendelt, wo ihre amerikanische Partnerin lebt. Als Songwriterin hat Lesley schon mit vielen namhaften Künstlern zusammen gearbeitet und bezeichnet sich selbst als großen ESC-Fan. Als Stage Director haben die Iren für den Auftritt in Rotterdam Fredrik Rydman gewinnen können. Unter seinem Künstlernamen Benke hatte er 2015 in Wien den legendären Sieg von Mans Zelmerlöw mit "Heroes" inszeniert. Die Inszenierung ist wirklich gelungen: Die "Storybook-Show" nimmt den Zuschauer mit auf die Reise und zieht ihn in die Geschichte von "Maps" hinein. Lesley tritt übrigens barfuß auf. Daran aber kann man nicht zwingend einen Einzug ins Finale beziehungsweise den Sieg festmachen, wie Emmelie de Forest (Barfuß-Sieg 2013), Looren (Barfuß-Sieg 2012) und Sandy Shaw (Barfuß-Sieg mit Nylons 1967). Wackelkandidat!
Elena Tsagrinou startet für Zypern. Ihr teuflisches Werk "El Diablo" hat im Vorfeld für ordentlich Wirbel aufgrund Plagiatsdiskussionen gesorgt. Außerdem kritisierten religiöse Gruppen den Songtext und forderten den Rückzug der "ekelhaft satanischen" Zeilen. Einer der Autoren - Jimmy "Joker" Thörnfeldt - will in diesem Jahr wohl mit aller Macht gewinnen und macht sich selbst Konkurrenz: Aus seiner Feder stammen auch der schwedische Beitrag "Voices" und "Adrenalina" für San Marino. Mir persönlich ist der Beitrag ein bisschen zu diabolisch, aber die Televoter werden ihn ganz sicher ins Finale katapultieren.
Norwegen - Kroatien - Israel - Rumänien
Diabolisch kommt auch der norwegische Beitrag daher. Der Sänger Tix hat an seiner Performance aus dem Vorentscheid nicht viel geändert. Er steht mit riesigen Engelsflügen und weißem Pelz auf dem Podest, angekettet an vier schwarze Teufelchen, die sich tanzend auf eigenen Podesten bewegen. Sein Titel "Fallen Angel" ist perfekt als Thema inszeniert, bleibt abzuwarten ob der Auftritt mit viel Nebelmaschinen und Pyrotechnik nicht zu kitschig wirkt. Auf die Herkunft seines Künstlernamens angesprochen, verriet der sympathische junge Sänger aus Norwegen, dass er schon seit seiner Kindheit am Tourette-Syndrom leide und deswegen von Mitschülern gehänselt wurde. Aufgrund der unkoordinierten Bewegungen bekam er den Spitznamen "Tics", den er später in Tix umwandelte. Seit er Musik mache, sei die Krankheit aber viel milder geworden. Mir gefällt das Lied und ich sähe es gerne im Finale wieder!
"Es kann sich in einem Jahr so viel tun: In der einen Minute fühlen Sie sich als Englischstudentin wie das Mädchen von nebenan und in der nächsten vertreten Sie Ihr Land beim Eurovision Song Festival." So beschreibt Albina Grčić das Abenteuer, in dem sie nach der Teilnahme an The Voice in Kroatien gelandet ist. Ob sie das Finale erreicht, ist Albina nicht mehr wichtig. Trotzdem ist der Charakter eines Wettbewerbs eher der Minuspunkt bei dieser ansonsten so schönen Veranstaltung. "Tick-Tack" ist ein Popsong im Stil Madonnas, hat aber für mich kein großes Potenzial.
Kostümwechsel und Trickkleider können auch immer die Möglichkeit der Pannen offenbaren. Die musste auch Eden Alene erfahren, als bei der ersten Probe für Israel der Kleiderwechsel nicht klappte. Aber auch für Israel besteht ja die Möglichkeit, den Auftritt nachzubessern und sicher hat jede Delegation eine Schneiderin für die kleinen Missgeschicke dabei. Wenn es denn dann aber klappt, lässt der kleine Kostümwechsel zum Ende des Auftritts Eden in einem Super-Mini-Mini-Kleidchen dastehen, das nur aus ein paar geflochtenen Kordeln zu bestehen scheint. Musikalisch ist "Tick Tock" ein radiotauglicher Song, den ich gerne im Finale sehen würde.
Roxen kommt ohne Schminke, Glitzer und Glamour aus, ein wohltuender Zeitgeist beim ESC-Geschehen. Da gibt es keine überflüssigen Effekte, die Musik, der Text und die szenische Darstellung sind die Botschaft und der Sinn des Auftritts. Auch das Outfit der Sängerin aus ist so schlicht, dass ich es anfangs für einen Jogginganzug gehalten habe, der die eigentliche Robe schonen sollte. Aber die gibt es nicht. Der Beitrag aus Rumänien ist ein Statement dafür, die Auswirkungen der vergangenen pandemischen Monate jedes einzelnen Menschen zu beschreiben und das Belastende zu vergessen, und verströmt auch auf der Bühne des Ahoy keinen Optimismus. Eine gut gelungene Adaption der Geschichte.
Aserbaidschan - Ukraine - Malta
Aserbaidschans Efendi umgibt sich als Mata Hari mit goldener, orientalischer Ornamentik (ob in Aserbaidschan bekannt ist, dass Mata Hari aus den Niederlanden stammt?) und wird von einer ebenfalls goldenen Klapperschlange hypnotisierend beäugt, die zuerst eine goldene Kugel ist. Also viel Gold rund um Efendi und ihre vier Tänzerinnen. Sie wirkt sehr schüchtern, im Gegensatz zu ihrer kraftvollen Inszenierung. Vielleicht lag das aber auch daran, dass Efendi als eine der wenigen Interpreten kein Englisch spricht und von einer Dolmetscherin übersetzt werden musste. Mit Stolz präsentierte sie allerdings die aserische Flagge auf ihren Schultern bei der Pressekonferenz und sei stolze Bürgerin ihres Heimatlandes. Efendi verlässt sich bei der Performance von "Mata Hari" stark auf den Chor, um sie durch den Song zu tragen. Er ist nicht auf dem gleichen Niveau, das wir aus den vergangenen Jahren aus Aserbaidschan gewohnt sind, deshalb ist auch eine Qualifikation nicht garantiert.
Die Formation GoA aus der Ukraine ist eine Elektro-Folklore-Band, die sich auf die moderne Interpretation traditioneller ukrainischer Geschichten und Melodien spezialisiert hat, die seit vielen Generationen weitergegeben werden. Die Band um Lead-Sängerin Kateryna Pavlenko kreiert eine moderne Neuinterpretation der ukrainischen Folklore, verpackt in elektronischen Sound. Der Name der Gruppe besteht aus "Go" als "Bewegung" und "A", wie im altgriechischen Buchstaben "Alpha", der sich auf die Rückkehr zu den eigenen kulturellen Wurzeln bezieht. "Shum" musste für den ESC etwas angepasst werden und basiert auf Vesnianka-Volksliedern. Da könnte durchaus ein Platz in den Top Ten drin sein.
Destiny aus Malta ist das Selbstbewusstsein in Person. Vor dem Auftritt war der maltesische Beitrag zumindest bei den Buchmachern auf den Gesamtsieg gesetzt, nach dem Auftritt entbrannte eine kontroverse Diskussion darüber, ob Destiny und ihre Berater in Sachen Outfit ein gutes Händchen bewiesen haben. "Lady in Pink" ist da noch die netteste Umschreibung, "ekelhaft" eines der negativen Urteile. Die Sängerin selbst wirbt für ein positives Frauenbild. Destiny steht in einem pinken Minikleid mit vielen Fransen auf der Bühne. Dazu noch Strümpfe, Stulpen, Overknees, ebenfalls in Pink, wobei ein Exemplar unter das Knie gerutscht ist. Die Darbietung ist stimmsicher und kraftvoll und wird wohl auch trotz der optischen Kostümentgleisung oder vielleicht auch gerade deswegen einen der vorderen Plätze einnehmen.
Biggi Müller