Darauf haben die Opernliebhaber sechs Monate warten müssen: Tolle Stimmen, ein glänzend disponiertes Orchester, die gelungene Inszenierung einer die Herzen berührenden Geschichte und dies alles live im Saal der Königlichen Oper der Wallonie. Besser hätte der Einstieg in eine sicher außergewöhnliche Opernsaison nicht verlaufen können.
Stefano Mazzonis, der Direktor der Lütticher Oper hatte es vor Monaten schon gesagt: „Wir müssen uns der Herausforderung stellen und im September die Theater wieder öffnen, denn Kultur, und damit die Theater, Konzert- und Opernhäuser sind für die Gesellschaft und die Demokratie überlebenswichtig. Sie sind die Proteine und Vitamine unseres Denkens.“
Und wie fügt Mazzonis an: „Wenn man die Stadien wieder dem Publikum öffnet, dann auch die Theater und Konzerthäuser.“ Wenn dies dann so gut durchorganisiert geschieht wie jetzt in der Lütticher Oper, dann kann es auch keine Bedenken geben.
Der Saal ist aufgrund der Kontaktbeschränkungen nur zu rund 60 Prozent besetzt. Das Publikum wird in den jeweiligen Kontaktblasen zu den Sitzplätzen geführt, es herrscht während der gesamten Vorstellung Maskenpflicht und alle halten sich dran, denn jeder im Saal weiß, was auf dem Spiel steht. Es geht schlicht und einfach darum, überhaupt wieder Musiktheater live vor Ort zu erleben. Und wenn dann so herausragend gesungen und musiziert wird, wie jetzt bei dieser Bohème-Produktion in Lüttich, dann nimmt man all dies gerne in Kauf.
Stefano Mazzonis hat mit Angela Gheorghiu eine der besten Mimi-Interpretinnen der letzten Jahrzehnte engagieren können. Als Mimi stand sie auf allen großen Bühnen, sei es in der Mailänder Scala, der Met in New York oder in der Wiener Staatsoper und die Liste lässt sich noch fortsetzen. Mit einer immer noch beeindruckend jung klingenden Stimme schenkt sie dem Blumenmädchen Mimi, das ja am Ende der Oper in einem herzzerreißenden Finale an den Folge ihrer Tuberkuloseerkrankung stirbt, in jeder Szene Glaubwürdigkeit. Aber sie lässt den Mitspielern den notwendigen Raum. Zumal ihr mit Stefan Pop ein ebenbürtiger Rodolfo zur Seite steht. Der wie Gheorgiu aus Rumänien gebürtige Pop verfügt über einen wunderschön warmen Tenor und über die notwendige Leichtigkeit in der Höhe. Er war die Entdeckung dieser Premiere.
Die Inszenierung ist die Wiederaufnahme der Mazzonis-Produktion aus dem Jahr 2016. Auch wenn Mazzonis die Handlung in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg verlegt, verzichtet er auf aktualisierende Anspielungen und erzählt leicht nachvollziehbar die Geschichte. Ihm kommt zu Gute, dass er schon vor vier Jahren zum Beispiel den Kinderchor hinter der Bühne singen ließ und er jetzt damit den covid-bedingten Problemen im wahrsten Sinne des Wortes aus dem Weg geht.
Die größte Überraschung findet sich aber in der Musik. Es ist natürlich unmöglich das große Puccini-Orchester im Graben spielen zu lassen. Das ist unter den aktuellen Maßnahmen in Sachen Sicherheitsabstand gar nicht drin. Glücklicherweise hat Puccini selbst eine Orchesterreduktion für 25 Musiker geschrieben. Puccini war ein schlauer Fuchs, er wusste, dass es um 1900 eben viele kleinere Häuser gab, die weniger Platz für ein Orchester boten. Damit seine „Bohème“ in möglichst vielen Städten gespielt werden konnte, schuf er diese Fassung, die absolut überzeugt. Sicher bringt der große Orchesterapparat in der Schlussszene noch eine größere Emotionalität, aber das Orchester der Lütticher Oper war bei der Premiere in absoluter Höchstform. Dazu trug sicher auch das ebenso engagierte wie feinsinnige Dirigat von Frédéric Chaslin bei.
Die Königliche Oper der Wallonie hat bewiesen, dass Musiktheater in diesen Corona-Zeiten möglich ist - und zwar sehr gut möglich ist. Bis zum 2. Oktober steht „La Bohème“ in Lüttich auf dem Spielplan. Aufgrund der dichten Aufführungsfolge sind für die Hauptrollen Doppelbesetzungen vorgesehen.
Hans Reul