Vor zwei Wochen reiste der Eurovisionstross voller Hoffnungen in die pulsierende Mittelmeermetropole Tel Aviv. Und ich mittendrin. Ich kann es gar nicht glauben, aber diese zwei Wochen rasten wie im Fluge, denn soeben ging das alles entscheidende Finale des 64. Song Contests zu Ende und wir haben einen Sieger: Duncan Laurence gewinnt für die Niederlande nach 44 Jahren wieder einen Eurovision Song Contest.
Und dabei reihte sich in diesen zwei Wochen ein Höhepunkt und eine Aufregung an die andere. Waren dies zunächst die alles überschattenden Raktenangriffe auf israelisches Gebiet, die durch einen erlösenden Waffenstillstand ein jähes Ende fanden, entspannte sich auch die Stimmung in Tel Aviv. Besorgnis und düstere Vorahnungen wichen purer Lebenslust, die Partyhochburg machte ihrem Ruf alle Ehre, die "heißeste" Stadt zumindest des östlichen Mittelmeers zu sein.
Großereignisse in der Stadt, bei denen die Bevölkerung begeistert und voller Stolz die zu Tausenden angereisten Fans und Beobachter willkommen hieß, ein opulentes Eurovision-Village, das auch dem zufällig in der Stadt weilenden Gast derart einheizte, dass er unweigerlich zum Eurovisionsfan wurde, oder die legendären Strandpartys entlang der blitzsauberen, stets auf Hochglanz polierten Strandpromenaden. In diese heitere ausgelassene Atmosphäre zu Temperaturen jenseits der 30 Grad mischten sich bittere Tränen.
Unsere belgische Hoffnung Eliot musste aus vielen unerklärlichen Gründen schon im ersten Semifinale die Segel streichen. Aber er war nicht alleine. Auch Ungarn erlebte eurovisionäres Debakel und konnte sich zum ersten Mal seit 2011 nicht für das Finale qualifizieren. Auch in Kroatien oder Portugal, wo man sich große Hoffnungen gemacht hatte, trauerte man.
Hingegen stand die neufirmierte Republik Nordmazedonien Kopf. Zuletzt war die bisher unter dem Wortungetüm "Former Yugoslav Republic Of Macedonia" firmierende, im Dauernamensstreit mit Griechenland liegende Republik 2012 im Finale gestanden. Auch San Marino schrieb eurovisionäre Geschichte, denn es galt, die bisher beste Platzierung zu verbessern, was dem türkischstämmigen Moderator Serhat mit seinem eingängigen "Say Na Na Na" mit Platz 20 gelang - zugegebenermaßen war diese Aufgabe nicht ganz schwierig, konnte San Marino bisher nur auf Platz 24 als bestes Ergebnis zurückblicken.
Auch die Schweiz, die mit dem deutschen DSDS-Sieger des Jahres 2012, Luca Hänni, ins Rennen gegangen war, konnte eine vierjährige Durststrecke beenden und dementsprechend groß war bei den Eidgenossen die Aufregung vor dem heutigen Finale, machte man sich doch auch wegen der blendenden Wettquoten berechtigte Hoffnungen, 31 Jahre nach dem Sieg des Weltstars Celine Dion den Song Contest wieder in das Land zu holen, das 1956 im beschaulichen Lugano die allererste Ausgabe des Grand-Prix d'Eurovision, wie damals der Wettbewerb genannt wurde, ausrichtete.
So spannend der Wettbewerb an sich sich gestaltete, so schillernd gestalteten die israelischen Gastgeber das Pausenprogramm. Weltstar Madonna durfte - angeblich von einem israelischen Multimillionär gesponsert - ihre neue Single vorstellen und das 30-jährige Jubiläum ihres Welthits "Like A Prayer" feiern. Sicherlich steckt hinter dem Auftritt der amerikanischen Popikone weitergehendes Kalkül. Die europäische Sendervereinigung EBU hatte nämlich zuvor angekündigt, im Jahre 2021 auf dem amerikanischen Kontinent ein dem europäischen Song Contest vergleichbares Format als Lizenzgeber zu unterstützen, so dass natürlich Madonnas Darbietungen auch den Song Contest dem Publikum auf dem amerikanischen Kontinent näher bringen sollte.
Aber nicht nur Madonna, sondern auch Conchita Wurst hatte ihren Auftritt in einem Hauch von Nichts als Kostüm, der ihre Beine und mehr freilegte. Da konnte natürlich die nicht weniger charismatische israelische Eurovisionssiegerin des Jahres 1998, Dana International, die in Israel den Kultstatus der gesellschaftlichen Befreierin genießt und Vorreiterin für gelebte Toleranz und die Rechte der LGBT-Bewegung in Israel war, natürlich nicht zurückstecken und bewies in einem ebenso sexy Outfit ihr Können.
Hinzu gesellten sich der smarte schwedische Eurovisionssiegers des Jahres 2015, Mans Zelmerlöw (im dezenten hochgeschlossenen schicken Hemd), Vorjahressiegerin Netta in knalligen Farbkostümen sowie der ukrainische Komödiant und Vollblutmusiker Andrej Danilko, der mit seiner originell-eigenwilligen Kunstfigur Verka Serduchka stimmliches Können mit Urkomik verbindet. Als dann alle zusammen den israelischen Siegertitel des Jahres 1979, das hymnische "Hallelujah" anstimmten, flossen bei vielen Tränen der Rührung.
Vor dem heutigen Finale sah man bei den Beobachtern Ratlosigkeit auf den Gesichtern, da sich in den Proben kein Beitrag als klarer Favorit herauskristallisiert hatte. So konnte man auf die Frage, wer denn gewinnen würde, Antworten wie Australien, Russland, Italien, Norwegen, Dänemark, Schweden, Niederlande, Schweiz, Aserbaidschan und mehrere andere hören. Und so herrschte größte Spannung, als das traditionelle Highlight, das "Voting", angekündigt wurde. Zuerst stimmten die Jurys aus den teilnehmenden 41 Ländern ab, zu denen dann die Punkte der ebenfalls in allen 41 Ländern abstimmenden Zuschauer addiert wurden.
Deutschland erlebte mal wieder ein Debakel: Keinen Punkt vom Publikum und nur der drittletzte Platz. Dahinter nur noch Weißrussland vor Schlusslicht Großbritannien.
Damit findet der 65. Eurovision Song Contest 2020 in unserem Nachbarland statt. Und ich packe meine Koffer und nehme mit: großartige Eindrücke aus einem Land mit schwierigen Zeiten und die gelebte Warmherzigkeit seiner Bewohner, egal welcher Kultur und Religion. Israel war ein einzigartiges Erlebnis. Shalom!
Biggi Müller