So haben Sie "Die Zauberflöte" noch nie gesehen. Und man darf sich gleich fragen, ist es überhaupt "Die" Zauberflöte, die derzeit in Brüssel gezeigt wird? Für mich ist die Antwort klar, nein, es ist nicht "Die" Zauberflöte, sondern "Eine" Zauberflöte und zwar die Sicht von Romeo Castellucci auf das Singspiel von Wolfgang Amadeus Mozart. Castellucci gelingt es, in einer selten erlebten Konsequenz, dem hinlänglich bekannten Werk eine emotional packende und bilderreiche Interpretation hinzuzufügen. Er will mit seiner Zauberflöte Fragen stellen, will und kann keine Antworten geben. Wenn man sich darauf einlässt, dann ist diese Zauberflöte ein Theaterereignis.
Die Zauberflöte besteht ja aus zwei Teilen. Das muss man bei Castellucci wörtlich nehmen. Der erste Akt ist geprägt von einem wunderschönen durchgehend weißen Bühnenbild, das sich fortwährend entwickelt, neue Perspektiven offenlegt, in dem die Sänger, die ebenfalls weiß gekleidet sind, eine Arie nach der anderen singen. Castellucci hat sämtliche gesprochenen Dialoge der Originalfassung gestrichen, und man hat fast den Eindruck, die Hitparade oder das "Best of" der Zauberflöte zu hören.
An einer traditionellen Erzählung der Handlung ist dem Regisseur offensichtlich nicht gelegen. Wer die Geschichte nicht kennt, wird sie nicht nachvollziehen können. Dieser erste Akt ist aber auch geprägt von einer den Rhythmus bestimmenden Choreographie. Das ist Ästhetik pur, wunderschön anzusehen und dank der Sänger auch ein Hörgenuss. Jede Figur ist übrigens verdoppelt bis auf die Königin der Nacht und ihr wird im zweiten Akt eine besondere Rolle zukommen.
Denn Romeo Castellucci zeigt nicht die rachsüchtige Königin der Nacht, sondern er stellt das Leid der Mutter, die ihre Tochter Pamina verloren hat, in den Mittelpunkt. Dieses Bild der Mutter wird noch vor der ersten Note deutlich, welch innigere Beziehung zwischen Kind und Mutter kann es geben, als die Muttermilch, und das zeigt Castellucci.
In der Zauberflöte geht es ja auch um Prüfungen, um Licht und Feuer. Auch das nimmt Castellucci wörtlich, streicht auch im zweiten Akt den Originaltext und bindet fünf blinde Frauen und fünf von schweren Brandverletzungen gezeichnete Männer in die Handlung ein. Sie erzählen ihre Lebensgeschichte. Das ist unglaublich berührend, die Stille im Saal ist greifbar. Eine der blinden Frauen ist übrigens die 22-jährige aus Eupen stammende Lorena Dürnholz. Ihr und den anderen Mitwirkenden gebührt Respekt und Anerkennung. Das ist großes, ehrliches und ergreifendes Schauspiel, mehr noch, es ist auf die Bühne gebrachte Wahrheit.
Jetzt fragen Sie sich vielleicht: Und die Musik in dem Ganzen? Dank des sehr engagierten Dirigats von Antonello Manacorda und eines glänzend aufgelegten Orchesters der Monnaie, das es sicher nicht leicht hat, wegen der langen Textpassagen die Spannung zu halten, und dank der phantastischen Sänger ist es auch musikalisch ein mehr als gelungener Abend. Sophie Karthäuser ist wie immer eine innig zarte Pamina, Sabine Delvielhe singt mit atemberaubender Perfektion die Koloraturarien der Königin der Nacht und es gelingt ihr sogar, der Hölle Rache die sonst übliche Schärfe zu nehmen und uns mit ihr als Mutter fühlen zu lassen. Besondere Erwähnung verdient auch der Papageno von Georg Nigl, der wieder einmal als Sänger und Darsteller förmlich in seiner Rolle aufgeht. Selbst die kleineren Partien sind typgenau besetzt, nehmen wir nur die kurze Rolle des Sprechers, die kein geringerer als Dietrich Henschel singt.
Sämtliche Aufführungen sind ausverkauft, aber die RTBF überträgt am Donnerstag, 27. September, um 20:00 Uhr die Liveübertragung aus La Monnaie im Programm von La Trois. Alle Infos gibt es im Netz unter lamonnaie.be.
Hans Reul
Ich sehe diese Zauberflöte gerade bei Arte und bin fassungslos. Mozart muß sich doch im Grab umdrehen. Warum komponiert dieser so hochgelobte Regisseur nicht selbst? Da kann er alles zeigen was er kann oder nicht. Aber bitte von wahrer Kunst soll er seine Hände lassen !!!
In welcher Welt leben Sie,liebe Frau Buhn?Ob der musikalischen Weltklassedarbietung hätte sich Mozart sicher sehr gefreut (so wie ich Ihn kenne). "Schwarz-Weiß"-Sichtweise ist hier nicht angebracht,Kunst ist eben vielschichtig! Endlich mal eine nicht so alberne Interpretation wie z.B. bei den letzten Salzburger Festspielen!
Nach anfänglicher Skepsis konnte ich kein Auge mehr von dieser großartigen Inszenierung lassen. Das ist experimentelles Theater mit Weltklasse Opernmusik. Es hätte dem experimentierfreudigen und ewig neugierigen Herrn Mozart gefallen. Kunst kann sich weiterentwickeln, ohne dass der Genuss an ursprünglichen Interpretationen geschmälert werden muss. Offen für Neues sein, man kann nur gewinnen dadurch.