Selten war der ESC so spannend. Es wird keine spektakuläre Show werden. Man merkt ihr vielmehr an, dass Portugal nicht die finanziellen Mittel hat, wie beispielsweise Wien im Jahr 2015 oder das schwedische Fernsehen generell. Aber die Portugiesen haben sich alle Mühe gegeben, einen schönen Rahmen zu bieten. Schon die landestypische Fadomusik, interpretiert von zwei portugiesischen Fado-Stars zu Beginn ist sehr emotional.
Heute Abend kann fast jeder gewinnen. Zypern, Israel, Estland, Deutschland, Norwegen, Schweden, Estland und Frankreich sind nur einige der favorisierten Beiträge. Genauso ist aber auch ein Überraschungssieger möglich, wie Moldau oder der Beitrag aus Ungarn, der mir persönlich zu rockig ist. Alles ist möglich, wie 2006 die finnische Band Lordi in Athen. Die Beiträge der beiden Halbfinals habe ich schon ausführlich vorgestellt, fehlen noch die, die automatisch im Finale dabei sind. Nochmals zur Erklärung: Der Gastgeber ist immer automatisch im Finale, wäre ja blöd, wenn die, die die Kosten der Austragung haben, sich nicht qualifizieren würde. Auch die Länder, die den ESC am meisten finanziell unterstützen, sind automatisch dabei: die sogenannten Big Five.
Gastgeber Portugal schickt Cláudia Pascoal ins Rennen. Das äußerst ruhige - manchen sagen auch, es sei eintönig - Lied „O jardim“ bietet sich nicht gerade für aufwändige Inszenierungs-Aktivitäten an, dennoch hätte man sich eine emotionalere Darbietung wünschen dürfen. Cláudia bleibt aber in ihrer dezenten Bühnenpräsenz der Grundatmosphäre ihres Songs treu. Autorin und Harmoniestimme Isaura Santos kommt zu einem späteren Zeitpunkt des Beitrags in maskulin anmutendem Outfit dazu. Beide bekennen, dass es schon eine besondere Ehre ist, ihr Land bei seiner allerersten ESC-Gastgeberrolle zu vertreten. Für Cláudia ist das Ganze ein großer Schritt in ihrer Karriere, der ihr die hundertprozentige Konzentration und Hingabe abfordere.
Alles, was Michael Schulte in Lissabon getan hat, kam richtig gut an. Und Deutschland könnte, seit den Desastern der letzten Jahre, mal wieder weit vorne mitspielen. Der deutsche Beitrag ist derart emotional inszeniert, dass mir viele Pressevertreter und Fans erzählen, dass sie bei der Darbietung eine Gänsehaut bekommen. Eine halbkreisförmige Leinwand wird „aufgeblasen“. Michael überzeugt erneut mit kräftigem und perfektem Gesang währenddessen wird die Geschichte des Liedes „You Let Me Walk Alone“ projiziert. Angesprochen auf die Geschichte seines Liedes und was ihm denn seine Mutter bedeute, wurde Michael einmal mehr sehr emotional. Er bewundere, wie sie das Leben für sich und ihre drei Kinder nach dem Tod ihres geliebten Mannes gemeistert habe. Als er von dieser, heldenhafte Leistung berichtete, bekam er Gänsehaut.
Unsere mitfavorisierten Nachbarn Frankreich absolvieren ihren Auftritt ohne großes Brimborium und bestechen durch Schlichtheit. Émilie und Jean-Karl, das Duo "Madame Monsieur" stehen anfangs nebeneinander auf der großen Bühne, über deren Boden Nebelschwaden ziehen, wobei Émelie bei der Inszenierung im Mittelpunkt steht. Obwohl die weltweiten Zuschauer den Inhalt und die wahre Geschichte von „Mercy“ nicht verstehen dürften, ist es doch sehr löblich, dass sie in der Heimatsprache repräsentiert wird. Weil der Auftritt aber auf keinen Höhepunkt zusteuert, könnte das am Ende den Favoritenplatz kosten. Frankreich hat den ESC zum letzten Mal 1977 mit Marie Myriam gewonnen. Das Popduo steht übrigens täglich in Kontakt mit der Mutter des Flüchtlingskindes Mercy, von dem das Lied handelt. Sie würden den Beiden auch beistehen, wenn ihnen in naher Zukunft der Übergang aus dem Flüchtlingsheim ins freie Leben anstünde, erzählten sie in der Pressekonferenz.
SuRie aus Großbritannien könnte einigen aufmerksamen ESC-Zuschauern noch bekannt sein. Sie hat sowohl 2015, als auch 2017 im Background der belgischen Beiträge mitgewirkt. Ich kann ihr nur zustimmen, wenn sie sagt, dass sie es sich nach den zwei Eurovisionsteilnahmen im Chor nun verdient hat, nach vorne in das Rampenlicht zu treten. Sie vergleicht die Eurovisionsteilnahme mit einer Musicalproduktion: Beides erfordere viel Vorbereitungsarbeit und sehr viel Disziplin. Ihr Lied "Storm" hat aber meines Erachtens kein Potential auf die vordersten Plätze.
Italien bleibt seinem Lied treu und bleibt bei der bewussten, aber passenden Schlichtheit und Unaufgeregtheit der Darbietung. Die nur auf dem Bildschirm eingeblendeten Textpassagen bei "Non mi avete fatto niente" sind in der Halle freilich nicht zu sehen. Es würde auch ohne funktionieren. Das besonders Italienische an dem Lied sehen die Ermal Meta e Fabrizio Moro in ihrer Art der Interpretation und der persönlichen italienischen Erfahrungen der Künstler, auch wenn einer der Sänger, Ermal, nicht in Italien, sondern in Albanien geboren ist. Besondere Erwartungen an die Eurovisionsteilnahme haben sie nicht, aber es ist eben eine gute Gelegenheit, die Botschaft des Beitrages zu vermitteln, welche keine politische, sondern eine soziale ist, verraten sie im Interview.
Amaia y Alfred aus Spanien bringen den Zauber der Liebe auf die ESC-Bühne. Ganz schlicht inszeniert stehen sie sich auf der Hauptbühne gegenüber, bewegen sich aufeinander zu, umarmen sich mit ihren Blicken und reichen sich die Hand. Ob es em Ende einen Kuss geben wird, lassen sich die beiden offen. Auf jeden Fall haben sie aber nicht vor, den bisher längsten ESC-Kuss (Dänemark 1957) von 11 Sekunden zu toppen. Die Kameras fangen das Liebesduett "Tu canción" behutsam ein. Mir ist es ein bisschen zu weichgespült, aber das spanische Desaster vom letzten Jahr werden die beiden auf jeden Fall verbessern.
Das Finale des Eurovision Song Contest wird von La Une der RTBF und in Deutschland auf Das Erste um 21:00 Uhr übertragen.
Bilder: Siegfried Doppler/BRF