Aber "hätte, hätte, wäre, wenn...." bringt uns nicht mehr weiter. Für Belgien ist der 63. Eurovision Song Contest vorbei und nach dem Contest ist vor dem Contest (einverstanden: ich zahle ins Phrasenschwein!) und das weltgrößte Musikfest geht weiter. Am Abend ist das zweite Halbfinale und weitere zehn Finalisten werden ermittelt. Und das sind die Teilnehmer des zweiten Halbfinales, in der Reihenfolge ihrer Auftritte:
Alexander Rybak ist ein alter Bekannter beim ESC: Er gewann den Song Contest im Jahr 2009 mit "Fairytaile" und tritt in diesem Jahr mit dem Titel "That´s How You Write a Song" wieder für Norwegen an. Im Gegensatz zu anderen arbeitet er für seinen Auftritt ohne zusätzliche Aufbauten und nutzt die komplette Hauptbühne zusammen mit seinen 4 Tänzern als Plattform für die Choreographie seines Songs. Natürlich dürfen dabei die eingeblendeten Strichzeichnungen wie die Glühbirne, die Noten, das Keyboard ... nicht fehlen. Das Timing mit diesen virtuellen Gimmicks klappt bestens. Und auch der „Auftritt“ seiner Geige ist wirkungsvoll inszeniert. Alles in Allem ein funkiger Wohlfühl-Song, dessen Einzug ins Finale als sicher gilt.
The Humans aus Rumänien klingen kraftvoll und stark, vor allem ist auch das ausdrucksstarke Stagedesign bemerkenswert, da es dem Titel noch die besondere Note gibt. Durch den Bass und Cristinas Stimme hat man bereits nach wenigen Sekunden eine Gänsehaut, und darf fast drei Minuten dieses Gefühl genießen. Die Atmosphäre durch die Puppen mit den weißen Masken passt gut zum Text.
Bei Serbien gibt es noch wenig Klarheit, ob der Einzug ins Grand Final gesichert ist. Die Choreographie wirkt sehr aufgesetzt und scheint auch den Künstlern nicht zu liegen. Es entsteht der Eindruck, dass die Darbietung Arbeit sei und nicht Freude an der Musik. Manche Bewegungen wirken merkwürdig. Stimmlich sind Sanja Ilić & Balkanika gut drauf und die Balkanklänge werden auf jeden Fall begeistern.
Nein, Ralph Siegel tritt in diesem Jahr nicht für San Marino an, er gönnt sich eine Auszeit wegen vieler anderer Projekte. Das heißt aber nicht, dass der diesjährige Beitrag es ins Finale schaffen wird. Im Gegenteil: Er wird als schlechtester des gesamten Wettbewerbs gesehen. Jessika fest. Jenifer Brening präsentieren "Who We Are" mit witzigen kleinen Robotern auf der Bühne. Es handelt sich um einen Pop-Song mit Rap-Einlagen.
Rasmussen aus Dänemark hat sich für den diesjährigen ESC den passensten Song ausgesucht! Sein „Higher Ground“ passt perfekt zum portugiesischen Motto „ ALL ABOARD“. In der Probe zeigte sich dann auch, dass die Bühne toll zu seinem Auftritt. Manche finden den "Wikinger-Beitrag" etwas düster, aber es passt alles toll zusammen. Das Lied erzählt in Seemannssymbolik von Männern, die ihre Waffen niederlegen. Das Ganze wird durch das Äußere von Rasmussen mit roter Wallemähne, langem Bart und stahlblauen Augen unterstrichen.
Julia Samoylova durfte im letzten Jahr in Kiew nicht für Russland antreten. Die Ukraine untersagte ihr die Einreise aus politischen Gründen. Russland zog daraufhin die Bewerbung zurück. Dieses Vorgehen nahm die EBU (European Broadcasting Union) zum Anlass, einige Regeln zu ändern. In Lissabon ist Julia nun dabei. Sie legt Wert darauf, dass nicht so offensichtlich gezeigt wird, dass sie in einem Rollstuhl sitzt und so thront sie während ihres Auftritts in luftiger Höhe, während unten auf der Bühne Tänzer eine unpassende Choreografie zum Besten geben. Überhaupt besteht der Eindruck, dass hier die Performance von den stimmlichen Schwächen Julias ablenken soll. Mich überzeugt er nicht, aber Russland wird wohl ins Finale einziehen, schon deshalb, weil es ja ein "Abstimmungsverhalten" der Ostländer gibt.
Moldavien hat sich zu einem Publikumsliebling gemausert. Der Song "My Lucky Day" von DoReDoS ist eine absolute Partynummer und Gute-Laune-Song. Hier hat der bekannte Komponist Filip Kirkorov ein Dreiminuten-Musical geschrieben, dass im 6oer Jahre-Stil sehr witzig inszeniert ist. Es mutet wie eine Boulevardkomödie im Stil von "Drei sind einer zuviel" an. Viele halten den Titel für einen Karnevalsschlager und es wird schwer sein, die Jurystimmen zu bekommen. Mach dem großartigen dritten Platz für Moldau im letzten Jahr dürfte es aber wieder für einen guten Platz reichen.
Ein alter Bekannter beim ESC ist auch Waylon. Als eine Hälfte der Common Linnets holte er beim Song Contest 2014 in Kopenhagen den zweiten Platz mit "Calm After the Storm" für die Niederlande. Mit "Outlaw in ´Em" kehrt Waylon zu seinen musikalischen Wurzeln zurück. Der Country-Rock-Song ist toll inszeniert und kommt auf der ESC-Bühne besser ´rüber als im Video. Ich mag Waylon, auch wenn es ein totaler Bruch zu den Common Linnets ist.
Australien nimmt beim ESC eine Sonderstellung ein. Seit vier Jahren schicken Down Under, wo seit langem eine große ESC-Fangemeinde gibt, einen Kandidaten nach Europa. Bereits bei der zweiten Teilnahme 2016 kamen die Australier auf den zweiten Platz. In diesem Jahr nimmt Jessica Mauboy mit dem Titel "We got Love" teil. Sie gilt als eine der Favoritinnen. Viel diskutiert wird hier in Lissabon ihr Bühnenoutfit, dass ein bisschen zu kurz und knapp beurteilt wird. Sollte Australien den Song Contest gewinnen, wird der der ESC 2019 aber auf jeden Fall in Europa stattfinden, weil die Kosten für die Reise des gesamten ESC-Zirkus den Rahmen sprengen würden.
Zur raren Spezies wahrer seriöser Spitzenmusiker gehören hier in Lissabon die Sänger des Jazz-Ensembles Iriao. Die Gruppe aus Georgien überzeugt mit außergewöhnlich guten Stimmen und einem Lied, das in diesem Wettbewerb komplett aus dem üblichen Pop-Rahmen fällt. Salvador Sobral, der Vorjahressieger, wird immer wieder als großer Fan der Gruppe genannt. Der Bandname Iriao bezeichnet eine Art des Jodelns in Westgeorgien und soll vor allem Respekt zu den alten georgischen polyphonischen Folksingers ausdrücken. Der georgische polyphonische Gesang wurde von der UNESCO zum Weltkulturerbe bestimmt. Der Titel "For You" basiert auf dieser Tradition.
Lukas Meijer erzählt,, dass er nach dem Erfolg mit seiner Band "No Sleep For Lucy" in Polen von seinen Fans und seiner Plattenfirma aufgefordert wurde, ein Lied für die polnische Vorentscheidung zu schreiben. Und daraus entstand das Lied „Light Me Up“, das er nun mit DJ Gromee in Lissabon präsentiert. Mit ihrem Tanz- und Partylied wollen die beiden die im Text besungene Traurigkeit, in der sich Lukas lange Zeit befunden habe, überwinden. Gromee und Lukas haben inzwischen beschlossen, auch nach dem ESC weiter zusammen zu arbeiten. Sie wären während der Vorbereitung auf Lissabon ein sehr enges Team geworden, aber dennoch sollen auch ihre Einzelkarrieren und –projekte parallel weiterlaufen.
Christabelle aus Malta hat die Inszenierung von Taboo aus dem maltesischen Vorentscheid weiter vervollkommnet. Im Zentrum stehen vier Projektionswände, die die Enge symbolisieren, in denen sich Menschen aus unterschiedlichen Gründen verfangen können und die eine Kommunikation mit der Außenwelt immer schwerer machen. Zugleich wird die Aussenwelt, die dieser Innenperspektive gegenübersteht, als bedrohlich darstellt. Die Inszenierung von „Taboo“ ist sehr durchdacht und der Auftritt von Christabelle hochprofessionell. Es hat mir persönlich ein bisschen zuviel Pyro-Technik
Alle, die beim ESC noch traditionell mit Käseigel und Erdbeerbowle an den Fernsehern sitzen, wird der Käse aus dem Mund fallen, wenn Ungarn auf die Bühne kommt. Ich werde jetzt mit allen Metal- und Hardcore-Rockfans brechen, aber für mich ist der Song "Viszlát Nyár" der Band AWS unorganisierter Krach. Aber er hat bei diesem Wettbewerb auch ein Alleinstellungsmerkmal und wir erinnern uns an die finnische Band Lordi, die mit "Hard Rock Hallelujah" 2006 gewannen.
Laura Rizzotto aus Lettland ist in ein rotes Spitzen-Miniabendkleid mit langer Schleppe gehüllt und steht vor einem überwiegend roten Hintergrund. Sie schreitet auch ein paar Schritte oder schwankt mit dem Mikrofonständer. Am meisten Bewegung kommt noch ins Spiel, wenn sie ihre Haarpracht hin- und herschleudert. Ansonsten passt ihre stimmliche Leistung noch zur Unaufdringlichkeit der Melodie von "Funny Girl". Auch ein James-Bond-angehauchter Song, unterstrichen von Lauras rauchiger Stimme.
Die Schweden haben den Dreh ´raus, was nicht alle hier in Lissabon toll finden. Die portugiesischen Veranstalter haben in diesem Jahr sicher auch aus Kostengründen auf eine große LED-Wand verzichtet. Das hält die Schweden nicht davon, eine eigene Wand mitzubringen, die leider auch in den Proben für technische Probleme sorgte. Hoffentlich klappt bei der Show am Abend alles. Der Song "Dance you Off" von Benjamin Ingrosso ist perfekt inszeniert und wird wohl auch zum Schluss ziemlich weit oben landen.
Montenegro besinnt sich seiner jüngsten Stärken. Der Sänger Vanja steht in einem hellblauen Anzug inmitten von vier Chorsängerinnen in weiss und schmettert herzzerreissend seine hymnische Balkanballade "Inje" ins Rund der Arena. Ein Pianist am Rande komplettiert den Auftritt. Das wird für das Finale nicht reichen!
Nein, danke“ kann man doch wirklich leiser sagen. Bei Lea Sirk aus Slowenien hingegen wummt die Halle enorm und die flackernde Lichtershow führt zu Augenirritationen. Wer das mag, wird mit dem slowenischen Beitrag „Hvala, ne!“ echte Freude haben. Das Inszenierungskonzept ist schlicht, aber passend: Eine Dame singt, vier Damen tanzen gelenkig, eine Dame im Hintergrund sorgt für stimmliche Harmonie. Man schreitet ein bisschen über die Bühne, wiederholt ganz oft „Nein, danke“ - das war’s. Ach nein: Da ist ja noch der gespielte Witz; jener vorgebliche Musikaussetzer, der dazu dienen soll, das Hallenpublikum zum Wiederanschub des Halbplaybacks zu bewegen. Nun denn.
Die Ukraine hat ein riesiges Bühnenelement dabei: Einen Flügel, zu dem eine Treppe aufsteigt. Sänger Melovin liegt darin wie in einem Sarg und es ist schon interessant zu sehen, wie er anfangs gar nicht zu sehen ist und dann aus seinem aufgeständerten Sargflügel herausgehoben wird. Der Chor wird auch schön eingebaut und die Verwandlung in einen eleganten Pianisten ist nicht schlecht. Zum Schluss wird ihm noch ordentlich Feuer unterm Allerwertesten gemacht und er muss wirklich zu Ende singen, weil sonst die brennende Treppe nicht erlischt.
Viel Spaß beim zweiten Halbfinale des Eurovision Song Contest 2018. RTBF überträgt mit La Une und der deutsche Sender ONE ab 21:00 Uhr.
Biggi Müller I Fotos: Siegfried Doppler/BRF