Unverkennbar Maria Callas als Norma, sie singt zur keuschen Göttin, Casta Diva. Kaum eine Opernaufnahme ist so einzigartig wie diese, und wer heute die Norma singt, sollte nicht erst das Risiko eingehen, den Vergleich mit der Callas aufnehmen zu wollen. Und Patrizia Ciofi ist davon auch glücklicherweise weit entfernt. Sie verfügt nicht über die riesige raumfüllende Stimme, aber dafür über nuancenreiche Farben, die sie eben zu der Ciofi machen.
In Lüttich wagt sie ihr Rollendebüt als Norma und zeigt nicht nur in der Casta Diva-Arie sondern noch viel intensiver in den Duetten und Ensembleszenen die Flexibilität ihrer Stimmführung. Das ist Belcanto vom Feinsten, auch wenn die Spitzentöne manchmal etwas hart angesetzt werden. Aber Norma ist nun mal eine der anspruchsvollsten Rollen des Repertoires.
Erzählt wird in der Bellini-Oper eine Dreiecksgeschichte: Die Tempeldienerin Norma ist die einzige, die den besten Zeitpunkt kennt, an dem die Gallier sich gegen die Besatzungsmacht der Römer auflehnen sollen. Aber Norma denkt nicht daran ihre Landsleute in den Kampf zu schicken, denn sie hat ein Verhältnis mit dem römischen Feldherrn Pollione und dies nicht erst seit gestern, denn aus der Beziehung sind zwei Kinder hervorgegangen. Nur, Pollione hat sich mittlerweile in eine andere, natürlich jüngere Tempeldienerin der Gallier verliebt: Adalgisa.
Daraus entwickelt sich der ganze Konflikt, der aber nicht nur eine komplizierte Liebesgeschichte, sondern auch Spiegel des gesellschaftlichen, ja kriegerischen Konflikts zwischen Galliern und Römern ist. Und da wir nicht bei Asterix und Obelix sind, wird am Ende nicht etwa zum großen Wildschweinessen geladen, sondern Norma und Pollione landen beide auf dem Scheiterhaufen. Sie, weil sie sich ihrer Schuld bewusst ist, er weil er sie immer noch liebt.
Regisseur Davide Garattini Raimondi lässt die Handlung in einem beeindruckenden Bühnenbild spielen. Über vier Ebenen erhebt sich eine Felslandschaft, die sich ganz am Ende der Oper in eine römische Fassade verwandelt. Haben die Römer jetzt gesiegt? Auch ist es erstaunlich, dass der römische Adler, der sich zum Schluss des ersten Akts auf die gallische Ebene senkt, zu Beginn des zweiten Akts einfach nicht mehr da ist.
Besonders wichtig ist dem Produktionsteam, das viel auf der Bühne passiert. Schon zur Ouvertüre tritt das Ballett auf, auch später selbst in den intimen Duo-Szenen wird vieles durch Choreographie nochmals unterstrichen. Mir ist es fast zu viel. Denn Bellini hat doch schon alles ohnehin den Stimmen zugeschrieben.
Neben der mit lang anhaltenden Ovationen bedachten Patrizia Ciofi war Gregory Kunde ein vor allem in den tiefen und Mittellagen glänzender Pollione und José Maria Lo Monaca als Adalgisa die Entdeckung des Abends. Der Chor hatte es nicht immer leicht, da er sehr weit vom Orchestergraben entfernt singen musste, aber konnte in vielen Momenten seinen beachtlichen Niveauanstieg unter Beweis stellen, außer in der Begleitung der Casta Diva-Arie, da fehlte es an der inneren Abstimmung. Das Orchester spielte unter der Leitung von Massimo Zanetti sehr solide.
Bis zum 31. Oktober steht "Norma" noch vier Mal auf dem Programm der Königlichen Oper der Wallonie in Lüttich.
Hans Reul - Bild: Lorraine Wauters/Königliche Oper der Wallonie