Wer kennt nicht die Geschichte des kleinen Pinocchio. Carlo Collodi hat sie vor über 100 Jahren erdacht. Den Filmstudios von Walt Disney verdanken wir eine rührende Filmumsetzung und der französische Theatermacher Joël Pommerat schuf vor 10 Jahren ein Theaterstück, das jetzt von Philippe Boesmans zur Oper weiter entwickelt wurde. Beim Festival von Aix en Provence erlebte das Werk in diesem Sommer seine Uraufführung. Jetzt wird die Oper mit dem selben Sängerensemble in Brüssel gezeigt.
"Pinocchio" ist ein Entwicklungsroman, die Geschichte von der Holzpuppe, die der alte Gepetto aus einem umgestürzten Baum schnitzt und die nach vielen Irrungen und Wirrungen - vom Lügen bekommt man, wie wir alle wissen, eine lange Nase - doch zu einem kleinen Jungen wird. Dabei muss er den Versuchungen des Lebens immer widerstehen, was ihm natürlich nicht gelingt, aber letztendlich besucht er dann doch die Schule und ist bereit für das Leben.
Pommerat führte schon in seinem Theaterstück die Figur eines Erzählers ein und dies behält auch die Opernfassung bei. Dabei ist es interessant zu sehen, wie die Rolle immer wieder vom reinen Erzähler zum singenden Mitwirkenden changiert. Mit Stéphane Degout steht ein grandioser Darsteller auf der Bühne. Seine Diktion ist, wie übrigens von allen Protagonisten, vorbildlich. Selten erlebt man eine solche Textverständlichkeit.
Aber dies zeichnet die Arbeit von Philippe Boesmans seit Jahren aus. Kaum ein anderer Komponist kann so vortrefflich für Stimmen schreiben wie unser mittlerweile 81-jähriger Landsmann. Das gilt selbst für die unglaublichen Koloraturen, die er der der Sängerin der Fee, Marie-Eve Munger abverlangt. Mit kristallklaren Höhen meistert sie die Partitur, die einer Königin der Nacht aus Mozarts "Zauberflöte" mindestens ebenbürtig ist.
Pinocchio wird von der zierlichen Chloé Briot auf schelmisch leichte Art gespielt. Kurz, das gesamte Solistenensemble ist von einer beeindruckenden qualitativ hohen Geschlossenheit. Man spürt die lange intensive Vorbereitungszeit, die der Uraufführung in Aix vorangegangen ist.
Pommerat ist nicht nur der Librettist sondern, wie man es von ihm kennt, auch der Regisseur dieser Produktion. Er kreiert ebenso schöne wie verwirrende Bilder, meist in Schwarz–Weiß-Kontrast gehalten. Nur wenige Farbtupfer. 23 Szenen folgen einander ununterbrochen. Wenn zum Ende der Oper Pinocchio und Gepetto auf dem Ozean treiben oder Pinocchio sich doch noch mal den herumtreibenden Müßiggängern anschließen will und auf einen LKW springt und mit diesem davonzieht, gelingen Pommerat Bilder von einer berührenden poetischen Kraft, die man so schnell nicht vergisst.
Welch fantastischer Tonsetzer Philippe Boesmans ist, muss nicht mehr unterstrichen werden. Nicht nur für die Stimmen, auch für das kammermusikalisch besetzte Orchester schafft er Klangbilder, die manchmal symphonische Ausmaße annehmen. Dirigent Patrick Davin ist dafür der wie stets umsichtig kongeniale Partner. Boesmans ist bekannt für seine Liebe zu Zitaten. Denken wir nur an seine letzte Oper "Au monde", übrigens auch eine Zusammenarbeit mit Joël Pommerat, in der selbst der Evergreen "New York, New York" zitiert wird.
In Pinocchio erinnert einiges an die Opern von Benjamin Britten, einmal wird offensichtlich Massenets "Mignon" erinnert, durch die von einem Trio gespielte Bühnenmusik gibt es manches Balkan-Feeling und selbst leichte Operettenanklänge lassen sich heraushören. Es ist eine immer persönlich gefärbte sehr tonal gehaltene Klangwelt, die auch ein der zeitgenössischen Musik nicht-affines Publikum ansprechen kann. Die Musik hat gewiss eine suggestive und deskriptive Kraft, aber manchmal kommt sie mir ein wenig zu leichtfüßig daher.
Bis zum 16. September steht „Pinocchio“ auf dem Programm von La Monnaie.
Hans Reul - Bilder: Hoffmann/La Monnaie