Das heißt für Blanche: Noch einmal durchatmen, denn morgen wird es ernst. Dann beginnen die eigentlichen Proben für das erste Semifinale, also die Show. Und tatsächlich ist Blanche zum ersten Mal seit sie hier ist entspannt. Bei den Buchmachern ist der belgische Beitrag abgesackt. Zu nichtssagend die Inszenierung. Das Finale zu erreichen dürfte aber nach wie vor kein Problem sein, dafür ist "City Lights" einfach zu gut.
Und wie sieht es mit unseren Nachbarn aus? Am Vormittag haben die BIG 5, also Deutschland, Frankreich, Italien, Großbritannien und Spanien geprobt, außerdem die Ukraine, die als Gastgeberland ja automatisch im Finale ist. Für Deutschland stimmt in diesem Jahr so gut wie alles. Das Opening des Beitrags ist umwerfend und in der Tat liegt Levina am Anfang auf dem Boden, umgeben von Lichteffekten in weiß. In dieser Position zu singen, ist eine Herausforderung, die Levina souverän meistert. Als sie dann zum Leben erwacht, außerhalb der Komfortzone, steht sie wunderschön, elegant im Rampenlicht, nicht wie eine Diva, sondern wie eine moderne, starke, junge Frau! Besser kann eine Sängerin diesen Song kaum präsentieren. Nicht von ungefähr kletterte Levina in den letzten Tagen in den Wettquoten nach oben. Im Finale tritt Deutschland in der zweiten Hälfte an. Ein gutes Omen!
Auch wenn heute in Frankreich die Präsidentschaftswahl im Vordergrund steht - Alma muss versuchen die Wahl auszublenden, weil sie sich ganz auf ihren Auftritt konzentrieren muss. Ihr Lied enthält orientalische, sogar lateinamerikanische und viele andere Elemente, inspiriert durch ihre vielen Reisen. Bei der Auswahl des Liedes "Requiem" will Frankreich durchaus mit optischen Klischees arbeiten, aber einen frischen und coolen Auftritt gestalten. Die Kulisse ist Paris und die Stadtansichten könnten aus einem Hochglanzprospekt stammen. Der Eiffelturm bei Nacht ist in ein goldenes Licht getaucht. Requiem mag eine Totenmesse sein, wenn Alma das Requiem singt, wird es zu einer Hymne an das Leben. Keine Spur von Traurigkeit, die Totenmesse macht Lust sich auf ein Abenteuer einzulassen, das im Anfang bereits das Ende trägt.
Die Schwestern aus den Niederlanden spalten die Beobachter des ESC. Wenn ein Song ohne Intro und mit einer a capella-Sequenz anfängt, dann muss jeder Ton sitzen. Und bei einem dreistimmigen Gesang ist das dreifach schwer. Die Schwestern schaffen das mit einer großartigen Leichtigkeit, da sitzt vom ersten bis letzten jeder Ton dreifach. Ein weiterer besonderer Schwierigkeitsgrad bei diesem Beitrag ist auch die perfekte Einstellung der drei Mikrofone. Das alles ist prima umgesetzt und das stimmige Bühnenbild lässt auf den Finaleinzug hoffen. Künstlerisch ist jedenfalls das, was OG3NE präsentieren, ganz großes Kino. Auch bei der Pressekonferenz setzte sich das Können der Drei fort: spontan stimmten sie den Song „Hold on“ von Wilson Phillips aus dem Jahr 1990 an und ernten tosenden Applaus der Zuhörer. Aber: Können ist nicht alles - und nicht alle Kollegen im Pressezentrum sind mit mir einer Meinung, dass es die Niederlande ins Finale schaffen wird. Ich bin da aber ganz zuversichtlich, denn künstlerisch ist „Lights and Shadows“ auf jeden Fall eine Ohrenweide.
Während dem gemeinen Journalist - also mir - der Zugang zum Bürgermeisterempfang versagt ist (ich kann ja auch nicht so gut singen!), bleibt Zeit für einen Stadtbummel durch eine traditionsträchtige und großartige Stadt, die den morbiden Charme der ehemaligen Sowjetunion noch nicht verloren hat.
Biggi Müller I Fotos: Sigi Doppler, Andres Putting