Der 1. Mai wird in Kiew noch in alter sowjetischer Tradition mit Demonstration, einem Meer aus roten Fahnen und sozialistischer Marschmusik begangen. Ältere Damen und Herren tragen voller Stolz die Insignien der sozailistischen Vergangenheit der alten Sowjetunion, in diesem Jahr auch durch das Eurovision Village am "Maidan", dem Hauptplatz in Kiew, geschützt von hohem Polizeiaufkommen. Aber ich fühle mich sicher in der Stadt und auch am Veranstaltungsort wird ausreichend kontrolliert.
Der ESC 2017 legt an diesem Feiertag keine Pause ein, die Proben und Pressekonferenzen gehen weiter. Am Abend hatten alle Künstler des 1. Halbfinals am 9. Mai zum ersten Mal ihren Song auf der großem ESC-Bühne vorgestellt - auch Blanche, die die belgischen Farben in Kiew vertritt. Wurde das belgische Lied "City Lights" im Vorfeld noch als Geheimtipp gehandelt, geriet die erste Probe von Blanche zum Desaster: Eine Inszenierung, die überhaupt nicht zum Lied passt und eine Sängerin, die noch gar nicht bei Stimme war, einen ängstlich verhuschten Eindruck macht. Belgien könnte vom allgemein schwachen ersten Semifinale profitieren und so das Finale erreichen. Damit wäre Zeit gewonnen, den Auftritt zu verbessern bzw. anzupassen. Bei der anschließenden Pressekonferenz ging das möglicherweise auch Pierre Demoulin (Foto re.) durch den Kopf
Einer der Favoriten auf der Bühne war Robin Bengtsson, der mit seinen vier Tänzern in perfekter Boygroup-Manier performte. Georgien ist sich noch nicht über die Farbwahl des Bühnenoutfits im Klaren. Der australische Beitrag von Isaiah war unaufgeregt ruhig, bis zum Moment der Pyrotechnik, die dem Auftritt nicht wirklich gut tut und die überdimensionale Hintergrund-Projektion von Isaiah wirkt zuweilen arrogant. Albanien - ein Geschrei in Pink!
Slavko Kalezic aus Montenegro inszenierte sich selbst, etwas übertrieben das Spiel mit seinem langen Zopf in Manier eines Schlangenbeschwörers und auch der Wechsel von überproportioniertem weiten Rock in mitternachtsblau zur engen silbernen Leggins ist Geschmackssache. Hier stand eins im Vordergrund: Body Language
Für Norma John gibts Superlativen: Die Finnin interpretierte ihr Black Bird selbst als Black Bird. Der Traum von schwarzer Robe mit Spitzenoberteil passte hervorragend zur blonden Friseur und die ruhige Inszenierung mit dunkler Bühne ohne viel Brimborium nur mit Flügel und Pianist war einfach großartig.
Wer sich auf den ersten Auftritt von Salvador Sobral aus Portugal gefreut hatte, wurde enttäuscht. Seine Schwester Louísa sang den wunderbaren Walzer „Amor pelos dios“, den sie selbst geschrieben hat. Die Gesundheit von Salvador ließ es offenbar nicht zu. Er hat eine schwere Herzerkrankung, wie seine Schwester berichtete. Es war unsicher ob er überhaupt nach Kiew reisen könne aber sein Ärzteteam stimmte letztendlich zu, dass er für die zweite Woche nach Kiew reisen könne aber nicht für die komplette Probenzeit.
Der Rest des Feldes plätschert dahin ohne jedwede Höhepunkte oder Ausrutscher, bei manchem Lied bin ich froh, wenn die drei Minuten maximale Zeit endlich vorbei sind. Natürlich sind das meine Bewertungen und Einschätzungen, die keinen Anspruch auf Geschmacksneutralität haben.
Und damit habe ich alle Beiträge des ersten Halbfinales jetzt einmal gesehen - zugegeben, ich habe hier die Möglichkeit, mir einzelne Songs "schön zu hören", während der Fernsehzuschauer beim ersten Hören und Sehen eine Entscheidung über "Go" oder "No Go" fällen muss. Schade ist, dass keines unserer Nachbarländer für uns abstimmen darf. Dafür aber Australien - wir erinnern uns: Australien hat uns im letzten Jahr viermal zwölf Punkte gegeben... Bonne chance, Blanche!
Und ich? Ich bin müde von den ersten Eindrücken hier, entscheide mich für ein frühes Zubettgehen und genieße den wunderbaren Ausblick auf den Maidan. Oder ob ich mich doch für die Eröffnung im Euro-Club entscheiden werde? Das Ergebnis meiner Überlegungen gibt es hier.
Biggi Müller I Fotos: Sigi Doppler, Stefan Ball