In der ersten Szene nach der Orchersterouvertüre können wir den durch den Matrosenchor gebildeten Bug eines Schiffes erkennen. Das war es dann aber auch schon mit den konkreten Bildbezügen zur Seemannswelt im "Fliegenden Holländer". Mehr muss auch nicht sein, wenn man, wie Tatjana Gürbaca, die Geschichte als eine sehr aktuelle und gar nicht ortsbezogene Kritik an der von Geld und Kapital geprägten und getriebenen Gesellschaft sieht. So kommt mir zumindest ihre Inszenierung vor, die den Verkauf Sentas durch ihren Vater an den reichen über die Meere irrenden Holländer in den Mittelpunkt rückt.
Dem entsprechend sind viele ihrer oft sehr kraftvollen Bilder: Die Seemänner sind wohl auf einer Bohrinsel oder zumindest in einer Raffinerie tätig, ölverschmiert sind ihre Hemden. Die spinnenden Mädchen um Senta putzen den Schmutz vom Boden. Das kann man aus dem "Holländer" herauslesen, muss man aber nicht, zumal der Erlösungsaspekt, der dem Werk auch innewohnt, hier all zu kurz kommt und somit das Liebesduett zwischen Senta und Holländer, das doch einen zentralen Punkt der Oper darstellt, wenig emotional wirkt. Wenn, dann ist die Erlösung im Schlussbild zu erkennen, wenn sich ein Riesenspiegel von der Decke aus auf die am Boden liegende Menschenmasse zu bewegt. Eine Szene, die man so schnell nicht vergisst.
Tatjana Gürbaca zeigt hier abermals, dass sie eine Regisseurin ist, die es versteht, die Sänger und Sängerinnen zu bewegen. Das ist ganz großes Bühnenhandwerk. Jede noch so kleine Geste bekommt ihren Sinn, vor allem aber ist es beeindruckend, wie sie die Massen zu bewegen versteht. Und da hat sie mit dem Chor der Flämischen Oper den perfekten Partner. Es gibt nur wenige Chöre, die so glaubhaft intensiv in eine Rolle eintauchen. Dazu bedient Gürbaca sich eines kleinen Tricks: Unter die Choristen mischt sie einige Schauspieler, die die singenden Kollegen buchstäblich mitreißen. Der Chor, der im "Fliegenden Holländer" ja ohnehin sehr prominent gefordert ist, wird damit zum Hauptdarsteller. Dass er auch noch hervorragend singt, versteht sich, nach den Erfahrungen der letzten Opernaufführungen in Antwerpen und Gent, fast schon von selbst.
Auch begeistert wieder einmal das Orchester. Der junge Dirigent Cornelius Meister greift dabei in die Vollen. Schon in der Ouvertüre lässt er uns den Wind um die Ohren wehen, er lässt die ganze Klangvielfalt der Wagnerschen Partitur aufleuchten und scheut kein fortissimo, ohne je zu übertreiben.
Für die Solisten ist es da nicht immer ganz einfach mitzuhalten, aber es gelingt. Obwohl er vor Premierenbeginn als grippeerkrankt entschuldigt wurde, sang Iain Paterson zwar mit etwas angezogener Handbremse, aber dennoch mehr als überzeugend die Titelpartie des Holländers. Ihm gegenüber ein stimmstarker Dmitry Ulyanov als Daland. Besonderes hervorzuheben sind die beiden Tenöre: Adam Smith als Steuermann und Ladislav Elgr als Sentas Geliebten Erik. Für die Sopranistin Liene Kinça kommt die Rolle der Senta vielleicht noch ein bisschen zu früh. Es war ohnehin für alle Sänger ein Rollendebüt, und da möchte ich die bemerkenswerte Leistung der jungen Amerikanerin Raehann Bryce-Davies hervorheben. Sie ist Mitglied des Jungen Ensembles der Flämischen Oper und fiel schon bei der Makropulos-Produktion vor einigen Wochen positiv auf.
Bis zum 4. November wird der "Fliegende Holländer" in Antwerpen gezeigt, dann stehen vier weitere Aufführungen vom 15. bis 22. November in Gent auf dem Spielplan.
Hans Reul - Bilder: Annemie Augustijns/Flämische Oper