Insgesamt neun Mal steht La Bohème auf dem Programm der Lütticher Oper, an beinahe jedem Tag bis kommenden Sonntag. Bei einer so dichten Aufführungsfolge muss für die vier Hauptrollen eine Doppelbesetzung vorgesehen sein. Das ist jetzt auch in Lüttich der Fall. Das hat aber zur Folge, dass ich nur von der Premierenbesetzung sprechen kann, die mit einer zweiten Besetzung alterniert. Es ist zu hoffen, dass diese ein ebensolches Fest der Stimmen bereithält, wie es am Freitag Abend zu hören war.
Allen voran muss die Leistung des Tenors Gianluca Terranova als Rodolfo hervorgehoben werden. Mit Superlativen sollte man ja vorsichtig sein. Aber Terranova verfügt über eine wunderbare Stimme, von einer Wärme und Farbenvielfalt, die an beste Pavarotti-Zeiten erinnert. Selbst die höchsten Töne meistert er mit einer unglaublich sicheren Leichtigkeit. Da haben es die anderen Solisten nicht leicht. Aber auch Ionut Pascu kann als Marcello absolut überzeugen, Cinzia Forte als seine Geliebte Musetta ist ihm eine gleichwertige Partnerin. Immer noch sehr beeindruckend, obwohl am Premierenabend etwas weniger glänzend als man es von ihr kennt, ist Patrizia Ciofi als Mimi. Es ist das erste Mal, dass die italienische Sopranistin diese Partie singt. Bisher stand sie immer als Musetta auf der Bühne.
Für eine weiteren Glanzpunkt sorgt der Dirigent Paolo Arrivabeni. Dass er seinen Puccini beherrscht, steht außer Frage. Aber wie er seine musikalische Deutung dem Orchester hat vermitteln können, das verlangt höchsten Respekt. Es ist grandios wie Arrivabeni in seinen Jahren als Chefdirigent sein Orchester hat formen können. Hier spürt man die akribische Vorbereitung, die Arrivabeni jedem Werk zugute kommen lässt. Selbst bei La Bohème, die er schon so oft dirigiert hat, entdeckt er, wie er uns vorab im Interview erklärte, immer noch neue Details in der Partitur, sei es die Tempoangaben, die Artikulation, den Charakter, oder Anmerkungen zur Inszenierung betreffend. Dabei ist seine letzte "Bohème" erst ein Jahr her, das war in Rom, und in diesem Jahr wird er das Werk noch in Tokyo und Genf dirigieren.
Die Inszenierung ist vom Lütticher Hausherrn Stefano Mazzonis persönlich. Er verlegt die Handlung in die Nachkriegsjahre, um 1950. Das bleibt aber ohne weitere Auswirkungen, weder im positiven noch im negativen Sinne. Störender sind die doch sehr langen Umbaupausen zwischen den einzelnen Akten. Sicher ist die Idee, die vier Künstler in einer auf der Etage liegenden Mansarde spielen zu lassen, sehr reizvoll, aber warum sich die Gitterfenster sowohl im ersten als auch vierten Akt heben und wieder senken müssen, erschließt sich nicht. Schade auch, dass Mazzonis den übrigens ausgezeichnet singenden Kinderchor bei der Momus-Szene des zweiten Akts in den Kulissen singen lässt. Aber das sind nur Randnotizen, die das musikalische Vergnügen dieser "Bohème" in Lüttich nur unmerklich stören.
Hans Reul - Bilder: Lorraine Wauters/Opéra Royal de Wallonie