Der Begriff "Geschichte" ist nicht gleichbedeutend mit dem Begriff "Vergangenheit". Das ist eine der zentralen Botschaften der Ausstellung "Gegenwart der Vergangenheit". Denn "Vergangenheit" ist alles, was bis gerade eben passiert ist.
Die Ausstellung befasst sich damit, was Menschen aus dieser undifferenzierten Masse an Ereignissen und Fakten machen, aus denen sich die Vergangenheit zusammensetzt. Also: Wie machen Nicht-Historiker "Geschichte"? erklärt Kuratorin Simina Bădică.
Da gebe es natürlich ganz viele verschiedene Formen, wie sich Menschen die Vergangenheit aneignen, so Museumsleiterin Constanze Itzel. Die in der Ausstellung gezeigten Fotografen hätten sich genau damit beschäftigt: Welche Rolle spielt die Vergangenheit für die Menschen? Dazu führt die Ausstellung durch sieben unterschiedliche Bereiche, angefangen beim "Reiseziel Geschichte".
Dieser Name ist Programm: Die meisten Europäer richteten laut einer Umfrage ihre Reiseroute am historischen Erbe aus, erklärt Itzel. Für Touristen sei es also sehr wichtig, sich mit Kulturerbe zu befassen und es zu besichtigen. Die Ausstellung zeige, wie unterschiedlich der Umgang damit sein könne.
Touristen halten ihre Besuche nun einmal naturgemäß immer auch auf Bildern fest, gerne auch posierend oder in Selfie-Form. Aber was vor antiken Ruinen noch zum Schmunzeln einlädt, gewinnt doch eine ganz andere Dimension, wenn die Kulisse stattdessen plötzlich Auschwitz-Birkenau heißt. Oder wenn eigentlich touristische Fotomotive je nach Betrachter ganz unterschiedliche persönliche Bedeutungen bekommen.
Der zweite Bereich mit dem Titel "Postheroisches Gedenken" befasst sich mit verschiedenen Formen des Umgangs mit der Vergangenheit. Zum Beispiel gehe es da um die Frage, ob die Vergangenheit bewahrt werden solle, erläutert Itzel, oder ob sie besser ausgelöscht werden solle. Darüber gebe es große Diskussionen - gerade etwa über das koloniale Erbe oder das Erbe des Zweiten Weltkriegs oder auch um kommunistische Monumente.
Dazu passt auch die darauffolgende Station über "Reenactments", das Nachstellen historischer Ereignisse oder Perioden, sei es aus vorrömischer Zeit oder aus den Weltkriegen. Historisch wichtige Zeiten, die oft sogenannte "Helden" hervorgebracht haben. Um deren Verehrung geht es dann auch im nächsten Ausstellungsabschnitt beziehungsweise um die Frage, ob "Größe" tatsächlich zeitresistent sein kann. Dass dem nicht immer so ist, wird in der nächsten Sektion deutlich. Denn die "Entsorgung der Vergangenheit" ist in vielen Fällen durchaus wörtlich zu nehmen. Manchmal ist es allerdings auch kein aktiver Akt der Entsorgung, mit dem Menschen Statuen und Monumenten zu Leibe rücken, sondern ein eher graduelles Verschwinden der baulichen Zeugen der Vergangenheit.
Von dieser "Renaturierung historischer Landschaften" wendet sich die Ausstellung dann aber wieder entschieden dem Subjekt "Mensch" zu. Denn zum Schluss, unter dem Motto "Historiker des Alltags", geht es um verschiedene Arten, wie ganz normale Menschen in ihrem Alltag mit Vergangenheit umgehen - und hier dürfen auch die Besucher selbst zumindest vorübergehend zu Archivaren und Hobby-Historikern werden. Der Blick der Fotografen auf die Menschen, die sich mit der Vergangenheit auseinandersetzten, sei sehr individuell, hebt die Museumsleiterin hervor. Trotzdem würden in ihren fotografischen Werken Gemeinsamkeiten sichtbar.
Das kann man auch gut als Fazit der Ausstellung stehen lassen. So vielfältig wir Menschen uns auch mit der Vergangenheit auseinandersetzen, einiges wirkt immer wieder fast schon überraschend vertraut. Diese Vielfalt ist auch genau das, was den Besuch der Ausstellung "Gegenwart der Vergangenheit" so empfehlenswert macht - nicht nur, wenn man sich sowieso für Fotografie interessiert, sondern auch, weil die Bilder gesellschaftlich relevante Fragen aufwerfen, die von höchster Aktualität sind und so zum Nachdenken anregen.
Die Fotoausstellung "Gegenwart der Vergangenheit" läuft bis Januar 2026. Der Besuch ist kostenlos. Mehr Informationen dazu auf der Seite des Hauses der Europäischen Geschichte in Brüssel.

Boris Schmidt