Es dürfte kein Zufall sein, dass die Neuigkeit gerade am Donnerstag bekannt wurde, am 500. Todestag des Meisters. Die Neuigkeit nämlich, dass in der Abtei von Tongerlo in der Provinz Antwerpen ein Bild hängt, an dem Leonardo da Vinci zumindest mitgemalt hat.
Bei dem Bild handelt es sich um die Darstellung des letzten Abendmahls Christi. Das Werk gilt als eine Kopie des Original-Bildes, das zweifelsfrei da Vinci zugeordnet wird und in Mailand hängt. Das Bild in Tongerlo soll eine Kopie sein, die als Auftragswerk von Schülern von da Vinci gemalt worden ist. So glaubt man das bislang.
Jean-Pierre Isbouts, Professor für Kunstgeschichte an der Universität von Santa Barbara im US-Bundesstaat Kalifornien, will das grundsätzlich auch nicht in Frage stellen. Allerdings vertritt er nach intensiver Auseinandersetzung mit dem Bild in Tongerlo die These, dass es sich nicht unbedingt um eine Kopie des Mailänder Werks handelt. Sondern eher um eine zweite Version des Abendmahls, die von Schülern von da Vinci unter Aufsicht des Meisters entstanden ist. Und an der da Vinci auch selbst Hand angelegt hat.
Die Figur des Johannes, der auf dem Bild in Tongerlo links von Jesus sitzt, soll das beweisen. Während Isbouts eine Nahaufnahme des Gesichts von Johannes auf einem Computerbildschirm betrachtet, sagt er: "Aus meiner Sicht ist dieser Ausschnitt ein klarer Beweis dafür, dass wir es hier mit einer Arbeit von Leonardo da Vinci zu tun haben. Das subtile Sfumato ist für mich ein deutlicher Hinweis darauf. Er ähnelt dem bei der Mona Lisa. Das legt für mich nahe, dass so eine Figur nur von Leonardo selbst gemalt werden konnte."
Das Sfumato ist eine Technik, deren Erfindung Leonardo da Vinci zugeschrieben wird. Dabei werden Konturen mit malerischen Mitteln nicht hart voneinander abgegrenzt, sondern weich miteinander verbunden und vermischt. Dank dieser Technik erhält der Johannes auf dem Bild in Tongerlo ein als androgyn zu bezeichnenden Gesichtsausdruck. Das Androgyne, also das Ineinanderfließen von männlichen und weiblichen Merkmalen in Gesichtern, habe da Vinci immer schon fasziniert, sagt Professor Isbouts in der VRT.
Um seine These zu erhärten, dass der Johannes ein Werk von da Vinci ist, hat der Professor jetzt auf die Hilfe des mikroelektronischen Instituts der Universität Löwen zurückgegriffen. Die Löwener Wissenschaftler haben das Bild in Tongerlo mit einer Spezialkamera durchleuchtet, die unterschiedliche Schichten des Werks erkennen kann. Bis ins Kleinste werden die Pigmente jeder Schicht aufgenommen.
Die Auswertung will Isbouts jetzt mit anderen Wissenschaftlern aus Europa und Russland durchführen. "Wenn wir beweisen können, dass die Pigmente ähnlich oder genau die gleichen sind wie die, die Leonardo da Vinci in seinem Atelier benutzt hat, dann würde das ziemlich stark für meine Theorie sprechen", sagt der Professor.
Zu 85 Prozent sei er sich allerdings jetzt schon sicher, dass es sich bei Johannes um das Werk von da Vinci handelt, sagt Isbouts. Er hatte sich in der Vergangenheit bereits darum bemüht, Geld für die Restaurierung des Kunstwerks zu sammeln. Seit 1986 gehört "Das Abendmahl" von Tongerlo zum flämischen Kunsterbe.
Als solches ist Ivo Cleiren, Konservator in der Abtei von Tongerlo, auch stolz auf das Bild. Die Aufregung um das mögliche Mitwirken von da Vinci relativiert er allerdings. "Wenn es tatsächlich so sein sollte, dass Leonardo an diesem Bild mitgewirkt hat, kann es natürlich sein, dass mehr Menschen zu uns kommen, um sich das Bild anzuschauen. Aber – warum kommen sie dann? Was schauen sie sich dann an? Das Bild wird auch dann genau so schön sein wie jetzt schon."
Kay Wagner
Warten wir die Ergebnisse der eingehenden wissenschaftlichen Untersuchungen ab, bevor wir Lärm um dieses Bild machen. Ich bin gespannt!