Das Magazin "Le Journal de Tintin" durfte bis in die 1980er Jahre in keinem Schulranzen fehlen - oder nur, wenn besagter Schulranzen einem Fan der Zeitschrift Spirou gehörte. Tintin und Spirou waren damals erbitterte Konkurrenten und haben beide jahrzehntelang Kinder und Jugendliche vor allem in Belgien unterhalten, begeistert, informiert und geprägt.
Spirou existiert immer noch. Das "Journal de Tintin" ist seinerseits schon seit 35 Jahren Geschichte. 1988 war die letzte Ausgabe erschienen. Am Freitag feiert Tintin aber sein Comeback in den Kiosken, wenn auch ein kurzlebiges: eine große Sonderausgabe zum Jubiläum.
Anlass ist der 77. Jahrestag von Tintin. Das Magazin erschien erstmals am 26. September 1946. Nur, wer ist so meschugge und begeht einen so krummen Geburtstag? Aber Tintin war schließlich das Magazin für Sieben- bis 77-Jährige - so ergibt das Ganze wieder einen Sinn.
Rückblick
Vor genau 77 Jahren war es der bekannte Verleger Raymond Leblanc, der den Lombard-Verlag gründete, in dem das Tintin-Magazin erschien. Es war kurz nach dem Krieg. Er sei der Ansicht gewesen, dass das ein guter Zeitpunkt war, eine Qualitätsillustrierte für Jugendliche auf den Markt zu bringen und das noch dazu mit dem prestigeträchtigen Namen "Tintin" im Titel, sagte Leblanc später in einem RTBF-Interview.
Tintin habe sich tatsächlich schnell als wirkliches Zugpferd erwiesen. Die Comicfigur Tintin und mit ihm sein Schöpfer Hergé waren nämlich in dieser Zeit bereits Berühmtheiten. Das erste Tintin-Abenteuer war schon 1929 erschienen. Trotzdem war es dem noch unerfahrenen Raymond Leblanc gelungen, Hergé mit ins Boot zu holen.
Das hatte wohl auch damit zu tun, dass der durchaus ein persönliches Interesse daran hatte. Der Zeichner war nämlich nach dem Ende der Besatzungszeit ins Fadenkreuz der belgischen Behörden geraten, weil er während des Krieges in der Zeitung Le Soir weiter seine Geschichten veröffentlicht hatte. Nur stand Le Soir unter Kontrolle der Nazis.
Hergé wurde bis auf Weiteres mit einem Veröffentlichungsverbot belegt. Raymond Leblanc war seine Rettung, denn der war bekanntermaßen Mitglied der Résistance und wurde so in gewisser Weise zum Bürgen für den in Ungnade gefallenen Comic-Künstler.
Ab 1946 erschienen also die Vorveröffentlichungen der neuen Tim- und Struppi-Alben in der Zeitschrift Tintin. Das allein war schon Verkaufsargument genug. Hergé scharte aber gleich zu Beginn noch weitere Zeichner und Autoren um sich. Allen voran Edgar Pierre Jacobs, der in Tintin seine erste Blake-und-Mortimer-Geschichte veröffentlichte. Es folgten schier unzählige weitere Comickünstler: Tintin wurde zur Vitrine für die neuen Geschichten der Altmeister und zugleich zum Sprungbrett für neue Talente. Bis heute sehr bekannte Serien wie Alix, Michel Vaillant, Ric Hochet oder Thorgal erschienen erstmals in Tintin.
Für junge Zeichner war die Arbeit für Tintin fast schon wie eine Ausbildung, sagte in der RTBF der Zeichner Clarke, der an der Jubiläumsausgabe mitgearbeitet hat. "Die Redaktion schaute uns über die Schultern, man brachte uns den Job regelrecht bei. Veröffentlicht wurde man erst, wenn die erfahreneren Kollegen das Ganze für gut erachteten."
80 Autoren beteiligt
Clarke ist einer von insgesamt 80 Autoren, die zum Jubiläums-Tintin beigesteuert haben. Die meisten von ihnen haben sich eine klassische Serie herausgepickt, die in Tintin veröffentlicht wurde, und dann eine eigene Geschichte daraus gesponnen: eine Hommage an die illustren Vorgänger.
Mit dabei auf dieser Reise über stolze 400 Seiten sind Altmeister, die das Magazin gekannt oder sogar dort noch gearbeitet haben, aber auch ganz junge Leute, die gerade ihre ersten Schritte in der Welt der Bande dessinée machen, wie Alix Garin, die vor zwei Jahren ihre ersten Arbeiten veröffentlichte. "Also ich habe sofort ja gesagt", sagte Garin in der RTBF. "Tintin ist ein Monument der kulturellen Landschaft in Belgien, ein Meilenstein in der Geschichte des franko-belgischen Comics." Sie habe das Magazin zwar nie gelesen, schließlich sei sie erst 26, sagt Alix Garin. Aber auch ihre Generation studiere noch die Arbeiten der damaligen Zeit.
Einige dieser Autoren haben übrigens auch die Zeitung Le Soir illustriert, die am Freitag ganz auf Fotos verzichtet. Allein daran zeigt sich: Tintin und die Bande dessinée insgesamt sind tatsächlich fester Bestandteil der Kultur dieses Landes.
Roger Pint