Wenn Bruno Kartheuser auf den Ort seiner Herkunft zu sprechen kommt, gerät er ins Schwärmen. Bei allen Wechselfällen ist der abgelegene Weiler ihm wie seinen Vorfahren Lebensmittelpunkt geblieben. "Schlommefurth ist der kleinste Furz im Walde zwischen Rodt und Poteau. Und dann kann ich hier darlegen, dass das ein ganz hübsches Universum war. Schlommefurth in der Mitte und all diese Dörfer rundherum, mit denen standen wir in Beziehung. Die kamen zur Sägerei oder andere, wenn es Rechter waren, die im Wald arbeiteten, kamen auf einen Sprung herein zu ihrem Bekannten oder Freund Baltes."
"Baltes" oder Balthasar Kartheuser ist der Großvater, um dessen Leben sich die beiden ersten Bände des Rodter Bilderbogens drehen, mit einer respektvollen Verneigung vor dem "Mann im Hause", mit dem sich der kleine Bruno im besten Sinne verstand - auch ohne viel Worte. "Wir haben 14 gemeinsame Jahre gehabt. Meine Mutter hat 1945 meinen Bruder Otto zur Welt gebracht und mich 1947. Das Besondere war, dass sie eine ledige Mutter war, nicht verheiratet. Das hat uns nichts ausgemacht. Das sind Dinge, die man sich gedanklich erst später erarbeitet … Das war keine ganz besondere Situation, gar nicht. Auch in der Schule in Rodt, im Kirchenbetrieb usw. waren wir als Schlommefurther gut integriert."
Mit "Schlommefurther" sind die beiden Familien Kartheuser und Rose gemeint, die in der früheren Mühle lebten. In der vorangegangenen Generation waren es vier Erwachsene und sieben Kinder. "Das war so das erste, was ich staunend wahrzunehmen hatte als Kind. Wir waren zu zweit, mein Bruder und ich, und die waren zu sieben. Ich habe die dann auch beneidet, dass die so viele Wahlmöglichkeiten hatten: mit wem spielen, mit wem zanken. Und dann die Temperamente, die sich aneinander messen. Wie ist das mit den beiden Familien? Aber das war eine schöne Bande. Die haben sehr gut zusammengehalten."
Bis zum Zweiten Weltkrieg, in dem zwei von ihnen gefallen sind: Bruno Kartheuser hat die Feldpostbriefe ausgewertet, die sein Onkel Battis nach Hause schrieb. "Er war ein Vielschreiber. Er hat dickes Heimweh gehabt, die ganze Zeit, er war ein Dreivierteljahr kämpfend an der Front in Russland. Davor war Arbeitsdienst. Er hat für dieses Dreivierteljahr 50 Briefe nach Hause geschrieben. Zusätzlich schrieb er auch noch Freunden und Bekannten aus der Familie und aus dem Dorf. Also war schon viel Eifer dabei, sich mitzuteilen. Und das erlaubt mir, eine Rekonstruktion vorzulegen, wie das im Alltag abgelaufen ist."
Auszug aus einem Brief vom 15. Oktober 1942: "Bin nun ein halbes Jahr Soldat, und mit diesem halben Jahr auch schon satt. Mir geht’s gut, habe aber bloß noch den Wunsch, heim zu kommen und Euch zu treffen. (…) Wollt ihr noch weiter Post von mir beziehen, dann müsst ihr mir bald Papier und Karten besorgen … Wie geht’s Euch? Ich habe auch eine schwere Stunde hinter mir. Gestern sind wir wieder zum Bunker gewesen und haben unseren Auftrag erfüllt. Wir müssen nun warten, was der Kommandeur weiter anordnet …"
Kurze Zeit später kam er durch einen Granatsplitter in Russland ums Leben - mit 19 Jahren. "Es ist ein Einblick in dieses Kriegsleben eines 18-, 19-Jährigen. Dann stellt man sich vor: Meine Kinder sind ja auch 18 oder 19 gewesen. Und dann habe ich immer den Brückenschlag gemacht, um es nachzuempfinden."
Das Leben geht weiter
Nach dem Krieg musste das Leben weitergehen an der Schlommefurth. "Die Sägerei kam wieder in Gang. Die Vettern aus Hinderhausen und aus Crombach haben angepackt, nicht alle gleichzeitig, aber die sind eingesprungen, um den jungen Kriegsheimkehrern Kräng und Jupp zu helfen. Und die Sägerei ist dann wieder gut in Gang gekommen mit dem Handicap, dass die Gemeindeväter es 1933 versäumt hatten, den Schlommefurthern auch Strom zu besorgen."
Das war dann erst in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre der Fall. "Bis dahin hatten wir Gleichstrom: Wenn man die Schleuse schloss vom Weiher, dann hatte man ein paar Stunden. Im Winter war es ein bisschen länger, weil dann mehr Wasser vorrätig war und als Rest, das war dann Petroleum oder Kerze oder alle Behelfsmittel, die in den alten Zeiten auch üblich waren."
Die Rose-Brüder haben den Betrieb jedenfalls wieder ans Laufen gebracht. "Bis dann Jupp, der Jüngere, der in Kriegsgefangenschaft in Frankreich war, mit 39 Jahren gestorben ist. Sein Bruder Kräng mit knapp 50 Jahren. Wiederum also diese Einschläge und das Erliegen aller Tätigkeit."
Das Haus wurde verpachtet, heute ist es ein Bed & Breakfast. Aber das liegt außerhalb des zeitlichen Rahmens, den sich Bruno Kartheuser mit der Geschichte des "Baltes von Schlommefurth" gesetzt hat. Den Rodter Bilderbogen aber will er nach Kräften fortschreiben.
Band zwei des Rodter Bilderbogens enthält auch ein paar literarische Texte, mit denen er sich seiner Geschichte und der seiner Familie annähert. Das Buch ist in der Edition Krautgarten erschienen.
Stephan Pesch