"Meine Muttersprache ist nicht Deutsch, sondern Platt. Deutsch habe ich erst mit sechs Jahren in der Schule gelernt. Deutsch ist meine erste Fremdsprache" – und Französisch seine zweite, erzählt der im Eifeldorf Heuem aufgewachsene Leo Gillessen. Studiert hat er zunächst Elektronik, doch seine große Liebe entwickelte er für Sprache. "Was wir fühlen, empfinden, muss eine Wirklichkeit in meiner Sprache haben. Verschiedene Sprachen, verschiedene Horizonte. Mit jeder neuen Sprache erweitert sich mein Horizont."
Versuche, Gedichte in der Muttersprache zu schreiben, waren nicht befriedigend. Die sprachlichen Möglichkeiten auf Platt seien begrenzt. So schreibt Leo Gillessen seit fast 40 Jahren auf Deutsch und Französisch. In seinem neuen Band "un moment à peine - kaum ist alle Zeit" sind es sehr kurze Gedichte, jedes hat gerade mal drei Zeilen. Nur wenige Gedichte in dem Band sind Übersetzungen. Meistens stehen die französischen und deutschen Texte unabhängig nebeneinander. Leo Gillessen nennt sie Schwellentexte. "Das heißt: auf der Schwelle, was deutlich und klar ist, was man glaubt zu verstehen. Während man liest, stellt man fest, dass da doch noch etwas ist. Es wird etwas klar, was man nicht spontan ausdrücken kann."
Er schreibe keine Geschichten, erfinde nichts, sondern schaue auf die Wirklichkeit, auf das, was ihn umgibt und ihm begegnet, sagt Leo Gillessen. "Die poetische Art zu sehen, ist nicht deuten und nicht aufhören zu schauen." Bei diesem Schauen spielt auch die Natur eine große Rolle. Für Leo Gillessen ist klar: Der Mensch ist nichts anderes als Natur. "Dass wir glauben, getrennt von der Natur zu sein, ist Teil der Illusion. Wir sind nicht getrennt von dem, was uns umgibt. In dem Moment, wo man im Augenblick lebt, öffnen sich die Dinge, wird die Fülle wahrnehmbar. Das hat Poesie gemeinsam mit Zen und Tai Chi."
Die Zen-Philosophie und der Kampfsport Tai Chi haben im Leben von Leo Gillessen seit 30 Jahren einen festen Platz und prägen auch seine Lyrik. Die Betrachtung des Seins komme dabei nicht aus der Logik, sondern aus dem Fühlen und Wahrnehmen. "Das tragende Element ist im Moment sein. Denken ist hinderlich. Beim Kampfsport geht es darum, zu fühlen, was auf mich zukommt, was da ist."
Rund 14 Bücher hat Leo Gillessen bereits veröffentlicht. Dass Lyrik es schwer hat, eine große Aufmerksamkeit und Leserschaft zu finden, bedauert Leo Gillessen. "Man glaubt, das ist eine Verzierung in einer Welt, die an sich eine materialistische, eine realistische ist, und die Lyrik ist etwas wie ein Blumenstrauß, den man auf den Tisch stellt und an dem man vorbeigeht, der eigentlich keine Wichtigkeit hat. Das ist eine sonderbare Einstellung. Es gibt Länder, wo die Einstellung eine andere ist. In Indien war das Lesen von Lyrik lange Zeit eine tägliche Sache für fast jedermann."
Leo Gillessen gehen Inspiration und Kreativität nicht aus. Neue Gedichte liegen schon druckbereit in der Schublade. "Es geht eigentlich immer um drei Fragen: Wer bin ich, was bin ich, warum bin ich da."
Das Buch "un moment à peine - kaum ist alle Zeit" ist im Verlag "Tétras Lyre" erschienen.
Michaela Brück