Zu Anfang der Geschichte scheint in der Reihenhaussiedlung am Waldrand alles ganz normal zu sein. Dann aber stellt sich heraus, dass die Welt hinter der Fassade ganz und gar nicht heil ist: Der Vater liebt neben dem Fernsehen und dem Whisky den Rausch der Jagd. Weil ihm für eine Großwild-Safari das Geld fehlt, lässt er seine Sucht nach Macht zuhause aus: an seiner Frau und seinen zwei Kindern.
Als Leser begleiten wir das zehnjährige Mädchen, das alles dafür tut, um zumindest ihren vier Jahre jüngeren Bruder aus der Hölle in ein besseres, oder wie sie sagt in "das wahre Leben" zu retten. Die Mutter ist kaum präsent. Die Kinder spielen auf einem Autoschrottplatz, abends gehen sie zum Eiswagen. Eines Tages passiert vor ihren Augen ein Unfall, der ihr Leben verändern wird.
"Teil meiner Geschichte"
"La vraie vie" ("Das wahre Leben") befasst sich mit einem schwierigen Thema: häuslicher Gewalt. Wieso interessiert sich Autorin Adeline Dieudonné dafür? Hat sie vielleicht selbst Gewalt in der Familie erlebt? Nein, sagt sie im BRF-Interview. Das Thema sei beim Schreiben gekommen.
Sie wollte, dass die beiden Hauptfiguren keine einfache Kindheit haben, weil das die Handlung interessanter mache. Erst viel später habe sie realisiert, dass auch in ihrer Familie Gewalt eine Rolle gespielt habe. "Als ich Kind war, hat meine Oma mir erzählt, wie ihr Vater die Familie tyrannisiert hat. Ich denke, das hat mich dann doch ziemlich geprägt hat. Es ist irgendwo auch Teil meiner Geschichte."
Adeline Dieudonné ist in Brüssel geboren und aufgewachsen und lebt auch heute noch dort. Die 38-Jährige hat zwei Kinder, von Beruf ist sie eigentlich Schauspielerin. Sie hat schon einige preisgekrönte Erzählungen geschrieben und mit Erfolg ein Theaterstück veröffentlicht: "Bonobo Moussaka".
Ihr Debüt-Roman ist im frankophonen Belgien und in Frankreich ein großer Publikumserfolg. Und auch die Kritiker feiern ihn: Das Buch gewann schon 14 Preise, zum Beispiel den Prix du Roman FNAC, den Prix Renaudot und den Prix Rossel. Das Überraschende an "Das wahre Leben" ist seine überzeugende Mischung aus Märchen und Thriller, aus Gesellschaftsroman und Horrorgeschichte.
Vergleiche mit Tarantino, Stephen King und Almodovar
Die Kritiker ziehen Vergleiche mit Quentin Tarantino, Stephen King und Pedro Almodovar - Adeline Dieudonné erfüllt das mit Stolz. Denn es sind auch diese Künstler, die sie bewundert. Von der französischen Ausgabe des Romans "La vraie vie" wurden bisher mehr als 200.000 gebundene Exemplare verkauft, soeben ist das Taschenbuch erschienen ("Editions du Livre de Poche"). Der Roman wurde mittlerweile in 20 Sprachen übersetzt.
Eigentlich hätte Adeline Dieudonné auf Lesereise gehen sollen - erst nach New Orleans in den USA, dann nach Polen. Die Corona-Pandemie hat ihr einen Strich durch die Rechnung gemacht. Stattdessen blieb sie zuhause in Brüssel und arbeitete an ihrem zweiten Roman. Tatsächlich habe sie aber zum Schreiben nicht wirklich die Ruhe gefunden.
"Wie die meisten Menschen konnte ich fast nichts anders tun, als mir immer wieder die Nachrichten anzuhören. Ich schaffte es einfach nicht, abzuschalten. Dann hatte ich die Kinder zuhause, die ja nicht zur Schule gehen konnten, da konnte ich mich auch nur schwer konzentrieren. Ich hab aber viel gelesen, vor allem Abhandlungen zu den Themen Feminismus und Sexualität."
Vielleicht hat Adeline Dieudonné dabei schon den Grundstein für ihren nächsten Roman gelegt. Über den Inhalt hat sie noch nichts verraten, nur soviel: Es wird wieder um das Thema des Zusammenbruchs gehen. Es könne dabei gut sein, dass die aktuelle Lage auf die Handlung einwirke.
Judith Peters