Der chinesische Generalstaatsanwalt will prüfen, ob illegale Praktiken zu der Katastrophe im Hafen von Tianjin mit mindestens 112 Toten geführt haben. Er werde zusammen mit örtlichen Behörden Belege für Machtmissbrauch oder Amtspflichtverletzung suchen, berichtete die staatliche Nachrichtenagentur Xinhua am Sonntag. Die Wahrheit über das Ausmaß der Katastrophe tritt nur langsam zutage. 95 Menschen wurden am Sonntag noch vermisst, darunter 85 Feuerwehrleute.
Doch vier Tage nach den ersten Explosionen in dem Gefahrgutlager seien die Chancen "gering", noch Überlebende zu finden, schrieben Staatsmedien. "Einige hundert Tonnen" hochgiftiges Natriumcyanid und andere Chemikalien waren dort nach Militärangaben gelagert. Unter den zehn Millionen Einwohnern der Metropole nur 120 Kilometer östlich von Peking geht die Angst vor gefährlichen Stoffen in der Luft und im Wasser um.
In Krankenhäusern wurden am Sonntag noch 698 Verletzte behandelt. Darunter sind 57 Schwerverletzte. Die Tragödie enthüllte nach Ansicht der Regierung einen "lockeren" Umgang mit gefährlichen Chemikalien. China müsse "äußerst tiefgreifende Lehren ziehen, die mit Blut bezahlt wurden", sagte Staats- und Parteichef Xi Jinping. Im ganzen Land wurden Sicherheitsinspektionen angeordnet. Premier Li Keqiang besuchte am Sonntag die Unglücksstelle.
Nach Protesten verärgerter Familien räumten die Behörden ein, dass möglicherweise viel mehr Feuerwehrleute ums Leben gekommen sein könnten als zunächst bekanntgegeben. Unter den Vermissten seien 13 Löschkräfte der offiziellen Feuerwehr und 72 weitere Brandbekämpfer, die von dem Hafenbetreiber frei angeheuert worden seien. Der Tod von 21 Feuerwehrleuten ist bereits bestätigt - das sind mehr als bei irgendeinem anderen Unglück in China seit 1949 gestorben sind.
Die Feuerwehrleute waren am späten Mittwochabend zu einem Brand in dem Gefahrgutlager geeilt und begannen mit den Löscharbeiten, als sich die Explosionen ereigneten. Ihnen war nicht bekannt, welche Gefahrgüter dort lagerten. Auch setzten sie Wasser ein, was bei einigen Chemikalien explosive Reaktionen auslösen kann.
Nach später zensierten Berichten waren dort 700 Tonnen Natriumcyanid gelagert, ein Salz der Blausäure, die hochentzündlich ist. Das wären 70 mal mehr als erlaubt. Auch wurde gegen andere Sicherheitsvorschriften verstoßen. So war das Gefahrgutlager viel zu nah an großen Wohnsiedlungen. Aufbewahrt wurden dort auch Kaliumnitrat und Ammoniumnitrat. Beide Chemikalien sind brandfördernd und werden auch zur Herstellung von Schießpulver oder Sprengstoff genutzt.
Die Explosionen rissen einen riesigen Krater in das Hafengelände des Binhai Distrikts und richteten kilometerweit Schäden an. Mehr als 3000 Bergungskräfte waren am Sonntag in einem Umkreis von drei Kilometern an Aufräumarbeiten beteiligt, berichtete der Stabschef der Militärregion, Shi Luze. Konvois mit Soldaten rollten in die Stadt.
Neue Explosionen durch schwelende Brandherde hatten am Samstag das Gelände erschüttert. Starker Rauch stieg auf. Aus Angst vor giftigen Gasen und einem Wechsel der Windrichtung wurden die Menschen in einer Notunterkunft in einer Grundschule in Sicherheit gebracht. Es herrschte Verwirrung. Obwohl Polizei über Lautsprecher zur Räumung in einem Umkreis von drei Kilometer aufgerufen hatte, bestritt ein Behördenvertreter, dass eine Evakuierung angeordnet worden sei.
Die Behörden versicherten zwar, dass die Luft ständig überwacht werde und keine Gefahr bestehe - lediglich 2 von 17 Messstellen hätten "für kurze Zeit" Blausäure registriert. Doch Anwohner waren besorgt. Viele trugen Mundschutz. Auch beteuerten amtliche Stellen, Abflussrohre seien gesperrt, so dass kein vergiftetes Wasser abfließen könne. Da die Behörden den Informationsfluss aber stark kontrollierten, Berichte zensierten oder sogar 50 Webseiten wegen der Verbreitung von angeblichen "Gerüchten" schlossen, hatten viele Menschen den Eindruck, dass ihnen nicht die ganze Wahrheit gesagt wird.
Chinas Präsident sagte, die Katastrophe und eine jüngste Serie von Unglücken zeigten "ernste Probleme beim Arbeitsschutz". Er forderte bessere Notfallmechanismen, verstärkte Umsetzung von Sicherheitsvorschriften und Inspektionen potenzieller Gefahren. Zuvor hatte das Amt für Arbeitsschutz erklärt, das Unglück "enthüllt einen Mangel an Sicherheitsbewusstsein bei Unternehmen und eine lockere Umsetzung von Sicherheitsvorschriften".
Die hohe Opferzahl löste Diskussionen aus, ob Feuerwehrleute für solche Notfälle ausreichend ausgebildet sind. Die Bergungsarbeiten kamen angesichts der anhaltenden Gefahren in den Trümmern nur langsam voran. Ein Team von Militärspezialisten im Umgang mit Chemikalien war auch im Einsatz. Nur 50 Meter vom Zentrum der Explosionen fanden sie nach Berichten in Staatsmedien am Samstag noch einen Mann lebend.
Das Unglück ist ein schwerer Schlag für das Wirtschaftszentrum Tianjin, das ein wichtiger Umschlagplatz ist. Der Binhai Distrikt trägt zu 55 Prozent zur Wirtschaftsleistung der Metropole bei.
dpa/fs - Bild: Handout (afp)