Drei Flugstunden von Brüssel entfernt - in gewisser Weise vor der Haustüre: Kiew, eine Stadt, die auf den ersten Blick so aussehen mag, wie eine Metropole in einem EU-Land.
Genau das macht die Bilder, die vom zentralen Maidan-Platz in Kiew in die Welt ausgestrahlt wurden, nur noch unwirklicher. Menschen, die buchstäblich abgeknallt werden, die vor laufenden Kameras in sich zusammensinken, blutverschmierte Schwerverletzte, die unter den Augen von Journalisten in ein Hotel getragen werden, das eiligst in ein Feldlazarett umgewandelt wurde. Eine junge Frau, die ein für uns durchaus gängiges Kommunikationsmittel benutzt, nämlich Twitter, um eine dramatische Botschaft in die Welt zu senden: "Ich sterbe".
Szenen, für die es nur noch einen Oberbegriff gibt: Krieg. Die Ukraine stand zumindest einen Moment lang mit einem Bein in einem Bürgerkrieg. Ein Bürgerkrieg in unserem Vorgarten. Düstere Erinnerungen werden wach. Jugoslawien, Sarajewo, Srebrenica.
Wie konnte es soweit kommen?
"Wer Weltpolitik verstehen will, der muss nur auf die Landkarte schauen", schreibt der amerikanische Geopolitik-Experte Robert D. Kaplan unter Berufung auf keinen geringeren als Napoleon. Und was sieht man da: die Ukraine, ein enorm großes Flächenland und damit ein Pufferstaat zwischen Europa und Russland, dessen westlichster Punkt quasi auf demselben Längengrad liegt wie Athen, und das sich nach Osten hin bis weit hinter Moskau erstreckt.
Das sagt tatsächlich alles. Das Land sitzt zwischen zwei Stühlen, die Ukraine liegt mitten auf der unsichtbaren Grenze zwischen der europäisch und der russisch geprägten Welt. Lange, bevor die Bruchlinien offen zutage getreten sind, haben Experten schon vor eben dieser ukrainischen Zerreißprobe gewarnt, wie wir sie jetzt erleben.
Wer die Ukraine betritt, der muss wissen, dass er durch ein Minenfeld läuft. Und gleich welche Gelüste und Verfehlungen man dem russischen Präsidenten Putin nun vorwerfen mag, jedem muss klar sein, dass er, wenn er die Grenze zur Ukraine überschreitet, auf der Türschwelle von Russland steht.
Entsprechend muss man den Europäern vorwerfen, zumindest mit Streichhölzern gespielt zu haben. Klar hat niemand die Ukrainer mit vorgehaltener Waffe dazu gezwungen, über ein Assoziierungsabkommen mit der EU zu verhandeln. Doch musste man wissen, dass der russische Bär früher oder später wach werden musste.
"Das ist eine Argumentation aus dem Kalten Krieg", mag man dagegenhalten. Klar ist sie das. Nur ist offensichtlich, dass das Russland von Wladimir Putin immer noch nach eben diesen Mustern räsoniert. Die Europäer waren also mindestens naiv, als sie mit ihren Freihandels-Träumen nach Kiew gestapft sind. Als sich namhafte EU-Politiker sogar auf die Bühne am Maidan-Platz stellten, musste das im Kreml als Provokation empfunden werden.
Ob sie es wollen oder nicht, die braven Europäer müssen sich den Vorwurf gefallen lassen, dass sie sich da letztlich indirekt zu Werkzeugen der USA gemacht haben. Die Amerikaner beherrschen inzwischen auch zumindest das Einmaleins der Geopolitik und sie wissen genau, wie nervös die Russen werden, wenn ihr Pufferstaat in die falsche Richtung zu kippen droht. "Die EU kann uns mal", sagte eine US-Spitzendiplomatin in einem abgehörten Telefonat. Fest steht: Gelogen hat sie nicht.
In dieser Ukrainischen Tragödie ist niemand ganz frei von Schuld. Europa und Russland haben gleichermaßen ein Land bezirzt, das auch ohne diese Sirenengesänge schon zwischen Ost und West hin- und hergerissen war.
Doch enden da auch die Parallelen. Die Streichhölzer, die die Europäer vielleicht mitgebracht hatten, haben in der Folge nämlich andere angezündet, und die haben vorher noch kanisterweise Benzin ausgeschüttet.
Das Wort "Zivilisation" ist nicht mehr angebracht, wenn eine Regierung mit scharfer Munition auf ihr Volk schießen lässt - mit der Kalaschnikow auf wehrlose Bürger, wenn dabei sogar Scharfschützen zum Einsatz kommen und wenn das Ganze noch durch schrille Töne aus Moskau angeheizt wird, mit Sprüchen wie aus dem Mund des russischen Ministerpräsidenten Dimitri Medwedew, der meinte, man brauche eine Regierung in der Ukraine, über die nicht hinweggegangen werden könne wie über einen "Waschlappen".
Zur einstweiligen Beruhigung der Lage haben erstmal zumindest vordergründig auch nur die Europäer beigetragen. Während aus Moskau noch Öl ins Feuer gegossen wurde, waren es die Außenminister von Deutschland, Frankreich und Polen, die stundenlang den russischen Präsidenten Janukowitsch und auch die Opposition bearbeitet haben, damit beide Seiten doch endlich ehrliche Verhandlungen führen.
Im Moment mag es so aussehen, als sei auch dank der Europäer der Grundstein gelegt für eine politische Lösung. Es gibt Hoffnung, wenn auch nur zaghafte. Denn es steht zu befürchten, dass die ukrainische Existenzkrise noch nicht vorbei ist. Ein Funke kann reichen, um das Höllenfeuer wieder zu entfachen.
Ob die Ruhe nun anhält oder nicht - das ändert nichts daran, dass Menschen gestorben sind und dass die Leute, die Blut an den Händen haben, noch auf ihren Stühlen sitzen. Und den Europäer sollte aufgegangen sein, dass man in der Weltpolitik manchmal mit extrem hehren Absichten doch extrem dünnes Eis betreten kann.
Ein guter Kommentar.
Die EU ist gut beraten, die Finger weg zu lassen von der Ukraine, die schon seit Jahrhunderten politisch und kulturell eher zu Russland gehört als zu Westeuropa. Russland ist in den vergangenen Jahrhunderten mehrmals aus Westeuropa aus angegriffen worden (Napoleon, Hitler) und deshalb reagiert es sehr allergisch auf Versuche anderer Mâchte, sich in seinem Vorzimmer breitzumachen. Dass der russische Bär jetzt knurrt, ist gut zu verstehn. Man soll es nicht drauf anlegen, dass er auch mal zubeisst.
Mehr denn je braucht man Russland als Partner und Vermittler. So zum Beipiel im Syrischen Bürgerkrieg oder bei der Lösung des Iranischen Atomprogramms. Die Naivität der Europäer ist einfach verantwortungslos. Mit was will man denn Eindruck machen bei den Russen ? Mit heruntergerüssteten und kaputgesparten Armeen, die kaum mehr sind als Politzeitruppen, bestimmt nicht.
1. Seit wann braucht die EU diesen Lebensraum im Osten?
2. Was die Kriege von Napoleon und Hitler in Richtung Osteuropa anbelangt, sollte man dies aus der Sicht der Russen sehen: Russland mag vielleicht das "Reich des Bösen" sein (auch unter Putin), doch der Krieg kam immer aus dem Westen!
3. Das ukrainische Volk hatte jahrhundertelang kein eigenständiges Land; in der Zarenzeit und Sowjetzeit wurden sie immer unterdrückt. Der letzte Völkermord der Moskauer Politik an den Ukrainern war in den 1930er Jahren unter Stalin, der sogenannte "Holodomor", der große Hunger, der Millionen Ukrainern den Tod brachte. Das ist bis heute noch Sprengstoff zwischen den Ukrainern und den in der Ukraine wohnenden Russen. Hinzu kommt noch, dass die Halbinsel Krim, mehrheitlich von Russen bewohnt, im Jahr 1954 von Nikita Chruschtschow verwaltungsmäßig an die Ukraine (damals verfassungswidrig) angegliedert wurde.