An Stürze in der ersten Woche haben die Teilnehmer und Beobachter der Tour de France sich in den letzten Jahren gewöhnen müssen. So heftig wie diesmal war es allerdings noch nie. Denn Jurgen Van den Broeck, Alexander Vinokourov, Frederik Willems, David Zabriskie und Amets Txurukka, das sind ja nur die fünf Fahrer, die sich auf der letzten Etappe vor dem Ruhetag die Knochen brachen und aufgeben mussten.
Zuvor hatte es ja schon Janez Brajkovic, Bradley Wiggins und Chris Horner erwischt, sowie belgischerseits Jurgen Van de Walle und Tom Boonen. Eine grausige Bilanz, wenn wir berücksichtigen, dass jetzt schon vier Teams ihren Spitzenfahrer im Krankenhaus abgeliefert haben: Die Astana-Mannschaft Alexander Vinokourov, Radioshak den Slowenen Janez Brajkovic, Sky den Briten Wiggins und Lotto seinen Jurgen Van den Broeck.
So wie in Deutschland das sportliche Sommermärchen der Fußballfrauen von einer Sekunde zur anderen zu Ende ging, platzten wenige Stunden später die Hoffnungen der belgischen Radsportfans auf eine Top-Five Platzierung - wer weiß, vielleicht sogar auf einen Podiumsplatz - in Paris. Seit November letzten Jahres hat Jurgen Van den Broeck auf dieses Ziel hingearbeitet, offenbar sehr erfolgreich, denn er war noch stärker als vor einem Jahr und lag noch am Sonntagmorgen auf Platz zwölf der Gesamtwertung. Vor den Pyreneen in bester Lauerposition.
Jetzt hat der 28-Jährige aus der Provinz Antwerpen andere Sorgen: Pneumothorax, Rippenbrüche und ein gebrochenes Schulterblatt.
Für die Vielzahl und die Schwere der Stürze gibt es nicht eine, sondern viele Ursachen. Die erste liegt in der Nervosität, die das Fahrerfeld in der ersten Tourwoche in jedem Jahr prägt. Da gilt es, die Positionen und den Rhythmus zu finden, sich aneinander zu gewöhnen und darauf einzustellen, dass praktisch alle unter dem Druck stehen, sich und ihrem Umfeld etwas beweisen zu wollen beziehungsweise zu müssen. Das ist nicht neu. Insider berichten allerdings darüber, dass dieser Druck immer größer wird, weil gerade die Tour de France mehr denn je das Rennen ist, bei dem alle glänzen wollen und dafür ein überhöhtes Risiko eingehen.
Genau wie die Veranstalter, die ihre Tour und die Regionen, durch die sie führt, vermarkten. Allzuoft auf Wegen, die dazu überhaupt nicht geeignet sind. Vorbei an dichtgedrängten Zuschauergruppen, die nicht immer rücksichtsvoll zurücktreten, man will ja schließlich etwas sehen.
Hinzu kommt in diesem Jahr der Regen, der die Straßen noch gefährlicher macht, als sie es ohnehin schon sind. Erst recht für Radrennfahrer, die auf superleichten, windschnittigen Maschinen mit hohen Felgen und dünnsten Reifen unterwegs sind. Das senkt den Rollwiderstand, erhöht aber das Risiko.
Wenn die Nervosität im Fahrerpulk sich dann obendrein noch auf die Fahrer der Begleitautos und -motorräder überträgt, ist die Katastrophe vorprogrammiert. So wie am Sonntagnachmittag, als die Fernsehzuschauer zum zweiten Mal hochsschreckten, als das Fahrzeug des französischen Fernsehens in die Spitzengruppe hineinfuhr und den Spanier Juan Antonio Flecha sowie den Niederländer Johnny Hoogerland durch die Luft und in den Stacheldraht wirbelte.
Mit 30 Stichen wurde Van Hoogherland heute genäht. Von Aufgabe will er nichts wissen. Wenn er an den tödlich verunglückten Wouter Weylandt denke, dann sei er noch glimpflich davon gekommen, sagte Van Hoogherland den beeindruckten Journalisten.
Die hoffen, ab Dienstag mehr über sportliche Leistungen als über böse Stürze berichten zu können. Denn das Unfallsoll, das hat die Tour 2011 schon jetzt weit überschritten.
Archivbild: Guillaume Horajuelo (epa)